Von 1940 bis 1945 wandte sich Mann in einer Reihe von anti-nationalsozialistischen Radiosendungen mit dem Titel „Deutsche Hörer!“ direkt an die deutsche Öffentlichkeit. Diese Sendungen kamen durch die Arbeit seiner Tochter, der BBC-Journalistin Erika Mann, zustande. In bewegenden, philosophischen Gegenerzählungen führt Mann einen Krieg über den Äther gegen Hitler, Goebbels und die Nationalsozialisten – mit seiner eigenen „deutschen“ Stimme – „der Stimme eines Freundes.“
Vom zukünftigen Sieg der Demokratie
Der Schriftsteller Thomas Mann (1875–1955) positionierte sich in seinen Reden „Von deutscher Republik“ (1922) und „Ein Appell an die Vernunft“ (1930) früh und konsequent als erklärter Gegner der Nazis, die wie zu erwarten an seinem trotzigen Republikanismus Anstoß nahmen. Bald nach der Machtergreifung im Januar 1933 erzürnte Mann die Faschisten erneut mit einer ideologisch provokanten Münchner Vorlesung über deren Kultobjekt Richard Wagner und trat aus der Preußischen Akademie der Künste aus, da er sich weigerte, dem faschistischen Regime Treue zu schwören. Im November, als er von seiner bevorstehenden Verhaftung erfuhr, ging Mann ins Exil nach Küsnacht bei Zürich in der Schweiz. Im Dezember enteigneten die Nazis sein Haus in München. Anfang 1937 veröffentlichte Mann eine vernichtende Antwort an den mitschuldigen Dekan der Universität Bonn, der ihm die Ehrendoktorwürde aberkannt hatte, und anschließend erschien Manns „Ein Briefwechsel“ über Deutschlands Abstieg in die „Barbarei“. Ab 1938 schrieb er aus Princeton, New Jersey, und ab 1942 von seinem neuen Haus in den Pacific Palisades, einem Wohngebiet in Los Angeles, aus. Bis 1945 unternahm er fünf Lesereisen durch die USA und Kanada und hielt über 150 antifaschistische Vorträge mit eindeutig antifaschistischen Titeln wie „Vom zukünftigen Sieg der Demokratie“.Die Stimme eines Freundes
Von 1940 bis 1945 wandte sich Mann in einer Reihe von Anti-Nazi-Radioansprachen direkt an die deutsche Öffentlichkeit: Deutsche Hörer!, die durch den Einsatz seiner Tochter, der BBC-Journalistin Erika Mann, zustande kam. In mitreißenden philosophischen Gegendarstellungen verteidigt Mann das Recht auf Menschenwürde und sagt Goebbels’ Propagandakampagnen und Gesetzlosigkeit, Massenmord, Massenaufopferung und Kriegsverbrechen Hitlers, des “stupiden Völkermörder[s]” mit seiner eigenen „deutschen“ Stimme - der „Stimme eines Freundes“ – den Kampf an. In seinen Gegenreden liefert Mann politische Nachrichten über die alliierten Nationen, kommentiert den Verlauf des Krieges aus westlicher Perspektive, stellt den Faschismus der Demokratie gegenüber, misst Hitler gegen Roosevelt und antwortet auf die deutsche Propaganda mit internationalem Konsens – auf „Lügen“ mit Tatsachen. Anfangs ermutigt Mann die Deutschen zum Widerstand gegen ihre Unterdrücker – und zwar in Tönen, die von Mitgefühl mit dem deutschen Leid bis hin zu Empörung über den deutschen, Hitlers Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermöglichenden Gehorsam und die politische Lähmung, reichen. Später geht er dazu über, die Deutschen auf die Folgen der Verbrechen, die Niederlage und die Sühne vorzubereiten, während er gleichzeitig versucht, die Hoffnung auf eine künftige Versöhnung mit der Völkergemeinschaft zu fördern.Keine informierte Öffentlichkeit
Von Anfang an prangern Manns Ansprachen die menschenfeindliche Begeisterung der Nazis für Vertreibungs-, Deportations-, Versklavungs- und Eroberungstaktiken, sowie deren “Siegfried-Waffe” Giftgas und zunehmende Gewalt- und Mordtaten gegen jüdische Europäer, an. In der Rede vom September 1941 entlarvt Mann die Leichtfertigkeit der nationalsozialistischen Expansionspläne in die Gebiete der Nachbarstaaten: „Aus Paris [...] werden wir den Lunapark, aus Frankreich überhaupt das Bordell und den Gemüsegarten von Deutsch-Europa machen“. Zu den Angriffen der Nazis auf die Menschenwürde, die Mann hervorhebt, gehört auch die Auflösung von Kultur- und Bildungseinrichtungen. Im August 1942 führt Mann die Schließung von Bildungs- und Forschungsinstitute in der „Tschechoslowakei“ als Beweis für Hitlers Ziel an, Europa zu einem „einem nichtigen, entmannten, geistig herabgesetzten, von ausgebeuteten Sklavenrassen nur dünn besiedelten Werkzeug des monopolistischen Deutschland“ zu machen, das keine zukünftigen Führer mehr hervorzubringen vermag. Keine informierte Öffentlichkeit, so erklärt er am 15. Januar 1943, könne übersehen, dass das Versprechen des Nationalsozialismus, ganz Deutschland zu einem mythischen einstigen Glanz zu verhelfen, irgendeinem anderen Ziel mehr diene als dem, „die Selbstbereicherung der Bonzen, die Verwandlung der Nazipartei in einen riesigen Wirtschaftskonzern, fett wie Göring“ hervorzubringen.Wie bitter die Niederlage
Mann preist diejenigen als Vorbilder, die den Frieden und die Freiheit mehr als das Leben lieben, während er Hitler heftig angreift. Am 27. Juni 1943 würdigt er die „glorreichen“ Münchner Studenten Hans und Sophie Scholl, die zusammen mit mehreren Mitverschwörern wegen des Verteilens antifaschistischer Flugblätter hingerichtet wurden. Am 28. März 1943 kommentiert er ironisch den augenfälligen Verfall Hitlers, der sich in zunehmend kürzeren, aber dennoch zusammenhanglosen und mit alternativen Fakten gespickten Reden zeigt: „Immer hatte sein reicher Geist [...] soviel Gutes, Weises, Hilfreiches mitzuteilen, daß er mit weniger nicht auskam. [...] Wollte er ,unter Beweis stellen‘, wie man jetzt in Deutschland statt ,beweisen‘ sagt, daß man geistige Defektheit in fünfzehn Minuten ebenso gut offenbaren kann wie in neunzig?“ Zutiefst entsetzt über die unaufhörlichen Angriffe der Nazis auf die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge, bringt Mann im März 1944 seinen Abscheu zum Ausdruck: „Diese unmäßige Niedertracht, dieser revoltierende, den Magen umkehrende Betrug, diese schmutzige Schändung des Wortes und der Idee, dies überdimensionierte Lustmördertum an der Wahrheit muß vernichtet, muß ausgelöscht werden um jeden Preis und mit allen Mitteln“. Am 19. April 1945 lobt er den jüngst verstorbenen Franklin D. Roosevelt und vergleicht diesen klugen und milden Staatschef mit dem „abgründig bösen, aber damit auch abgründig dummen“ Hitler. Doch als die Niederlage Deutschlands, für die Mann sich eingesetzt hatte, eintritt, stellt er am 10. Mai 1945 nüchtern fest: „Wie bitter es ist, wenn der Jubel der Welt der Niederlage, der tiefsten Demütigung des eigenen Landes gilt!“Ich sage, es ist trotz allem eine große Stunde: die Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit.
Deutsche Hörer! ist nicht nur Manns längste, ergreifendste und zum Paradigma gewordene politische Unternehmung, sondern auch das bestimmende politische Werk seines pro-republikanischen und antifaschistischen Aktivismus in den letzten langen drei Jahrzehnten seiner Karriere und seines Lebens. Heute, wo demokratische Herrschaft und Rechtsstaatlichkeit in weiten Teilen der Welt wieder gefährdet sind, hat die humane und mutige Mission von Manns antifaschistischen Radioansprachen als Modell des Widerstands wieder höchste Dringlichkeit erlangt. Manns Enkel Frido Mann – der sich noch an die Ungläubigkeit seines Großvaters angesichts der Resonanz, der Herrschaft und der Verbrechen des „Mist-Gehirn“ Hitlers erinnert – plädiert sogar dafür, „Thomas Manns fünfundfünfzig Ansprachen an das damalige Deutschland unterm Hakenkreuz heute nicht nur unter museal-historischem Aspekt zu lesen und zu bewundern, sondern sie auch als einen Appell an die heutige Welt zu verstehen“.
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