Jede Nacht hielten sie die schrecklichsten Szenarien wach:
Ich, den Bus verpassend, gestrandet irgendwo im Nirgendwo, jeden, den ich treffe, trägt eine Schrotflinte auf dem Rücken.
Ich, den falschen Leuten vertrauend, plötzlich in einer Kühltruhe, zwei Nieren weniger.
Ich, angeschossen in einer dunklen Gasse, blutüberströmt, weiße Hüte, die sich entfernen, die letzten Worte auf meinen Lippen: Mama, warum habe ich nicht auf dich gehört?
Während mir Freund*innen und Bekannte Sightseeing-Spots an der Westküste empfahlen, lag meine Mutter im Bett und hat gezittert.
Sieben Jahre später ist eine Sache anders: Meine Mitbewohnerinnen, meine besten Freund*innen, mein Badminton-Partner, meine Chefin, die Sitznachbarin im Zug, die nach meinen Sommerplänen fragt: sie alle zittern ein wenig. Sie alle schauen mir beim Abschied etwas tiefer in die Augen als sonst. Sie alle sagen das gleiche und sie alle sagen es ernst: Pass auf dich auf.
Vor einem Monat hat der YouTube-Kanal Jubilee eine neue Folge seines Diskussionsformates Surrounded veröffentlicht, die inzwischen 11 Millionen Aufrufe hat: 1 Progressive vs. 20 Far-Right Conservatives, heißt sie. Das Konzept: eine Person mit einer starken Meinung sitzt in der Mitte und zwanzig Personen mit einer gegenteiligen aber genauso starken Meinung sitzen um sie herum. Surrounded, eben: Ein kleines Kolosseum der Moderne.
In dieser Folge ist der Mann in der Mitte Mehdi Hasan, britisch-amerikanischer Politikjournalist. Eine Stunde und vierzig Minuten lang redet er mit jungen Menschen, die stolz verkünden, dass sie Faschisten seien, den Holocaust relativieren, die ihm, den Sohn indischer Migranten sagen: Du bist kein Amerikaner. Wir wollen dich hier nicht. Geh zurück in dein Land.
Pass auf dich auf. Pass auf dich auf. Pass auf dich auf.
Ich bin mir nicht sicher, warum mir gerade diese Szenen Gänsehaut geben. Mein Kopf versteht und verzweifelt bei den täglichen Meldungen über abgeschobene Minderjährige oder Pro-Palästina Aktivist:innen. Das Video aber schnürt mir den Hals zu. Vielleicht ist es der Stolz, mit dem so junge Männer einen älteren Mann hassen, den sie nicht kennen; die Schamlosigkeit, mit der sie es tun, ganz ohne Subtext und mit Klarnamen. Vielleicht weil Hasan zwar einen amerikanischen Pass hat, aber gebürtig British-Indian ist, genauso wie meine Mutter, wie meine Familie, weil er so klingt wie sie, weil er so klingt wie ich. Vielleicht weil dieser Gedanke mich nicht loslässt: Meine Mutter zittert vor Angst, diese Männer zittern vor Wut.Damals in Seattle, während meine Mutter ein Jahr lang nicht schlief, führte ich die herzlichsten Unterhaltungen, die ich mit Fremden jemals geführt hatte, lernte von den engagiertesten Dozierenden, scherzte mit den freundlichsten Kellner:innen. Was sich anhört wie ein Klischee, musste ich mir als deutsche Griesgrämin schnell eingestehen: Wohin ich auch ging, welches Problem ich auch hatte – alle wollten helfen.
Wie bekommen wir Dinge zusammen, die sich gegenüberstehen? Freundlichkeit und Hass, Offenherzigkeit und Abschottung, Weltmacht und Ungleichheit, Zukunftstriebe und Vergangenheitsaffären? Wie bekommen wir eine Gesellschaft zusammen, die sich an jeder Bushaltestelle trifft und an jeder Eilmeldung spaltet?
Das Glück im Unglück: Um sich diese Fragen zu stellen, müssen wir nicht in den Flieger steigen. „Pass auf dich auf“, eine lange Umarmung, ernste Augen – all das wird mir auch hier in Deutschland mitgegeben: Jeden Abend auf dem Weg nach Hause. In Chemnitz nach 2018. In Hanau nach 2019. In Oldenburg nach Lorenz. In dem Stadtteil, in dem ich wohne, in dem die stärkste Partei die Linke und die zweitstärkste die AfD ist. Spaltung können auch wir Deutschen, und das sogar ziemlich gut. Pass auf, pass auf, pass auf – wie ein Taschenwärmer wird mir dieser Satz dann von lieben Menschen zugesteckt. Wohlwissend, dass er die Kälte draußen nicht vertreibt, aber einen Moment lang meine Hände wärmt.
Wie bekommen wir Dinge zusammen, die sich gegenüberstehen? Indem wir einander Geschichten erzählen? Leben und lieben, so gut und zuhören, so viel, wie wir können? Kalten Händen immer wieder Taschenwärmer zustecken? Oder indem wir nach Amerika reisen und unsere Mutter vier Wochen lang nicht schlafen lassen?
Mama, ich gehe nach Amerika.
Bitte pass auf dich auf.
Die in diesem Text geäußerten Ansichten sind ausschließlich die der Autorin und spiegeln nicht notwendigerweise die Meinung oder Position des Goethe-Instituts wider.