Amerika ist überall: in meinem Fernseher, in meinem Radio, in meinen Witzen. Ich weiß, wo Amerikaner günstig shoppen gehen (Target) und ich weiß, dass manche von ihnen es Targé aussprechen, damit es teurer klingt. Ich weiß, dass US-Polizisten auch Ranger heißen und ich weiß, wie die Sirenen ihrer Autos klingen. Ich kenne mehr Straßennamen in Manhattan als in München. Und noch tragischer: Ich weiß mehr über Amerika als über Indien, das Land meiner Herkunft. Wenn Herkunft nach kulturellem Wissen vergeben würde, hätte ich jetzt Cowboy Boots an.
Als wir zu unserem Hotel in Chinatown liefen und ich mich umschaute (Canal Street – noch ein Punkt gegen München), fühlte ich zum ersten Mal das, was ich in den nächsten Tagen noch oft fühlen sollte: ich entdeckte nicht, ich erkannte wieder. Der tanzende Passagier in der Subway, die geschäftigen und gesprächigen Kassierer hinter der Bagel-Theke – sie alle bestätigten ein detailliertes Bild von New York, das ich 28 Jahre lang gezeichnet hatte und das nun kräftiger aussah, als das, was vor meinen Augen passierte. Ich schaute gelben Taxis beim Hupen und Bauarbeitern beim Arbeiten zu und sah nicht sie, sondern das Bild von ihnen in meinem Kopf – ein Bild, produziert von Netflix, starring Adam Sandler or Jennifer Aniston.
Iven und ich sitzen in einer Bar, vor mir steht ein zu einem Viertel gefülltes Glas Weißwein, das offenbar vierzehn Dollar wert ist. Unsere Tischnachbar:innen laden uns dazu ein sich zu ihnen zu setzen. Ich kenne diese Leute nicht und doch habe ich das Gefühl, ich habe sie drei Staffeln und ein Serienfinale lang begleitet: Sasha stellt viele Fragen und unterbricht zwei Sätze später wieder, lebt seit vier Jahren in New York, redet ironisch über das Dating-Leben in der Stadt und dreht sich dabei eine Zigarette. Julie ist seit zwei Monaten hier, kommt eigentlich aus einer kleinen Stadt in Florida -- „really not worth mentioning“ – freut sich auf alles und alles freut sich auf sie: die Stadt, der Abend, der Wein, wir, der nächste Tag, der Tag danach. Jacob ist in New York geboren und aufgewachsen, Italian-American und stolz darauf. Als Iven ihm von unserem Sandwich vorschwärmt, winkt er ab: „That place is good, but it used to be great.“
Kann man etwas erleben, im Hier und Jetzt sein, wenn das Hier und Jetzt immer mit den eigenen Vorstellungen konkurriert? Wenn man jeden Moment automatisch kategorisiert in „Das kenne ich“ und „Das hab ich mir schon gedacht“? Wenn sich jede Handlung wie ein Spiel anfühlt: Jetzt bezahl mal mit nem Dollarschein. Jetzt sag mal, du willst einen kleinen Kaffee und bekomm dann einen Liter.
Wie kann man dieses Land erleben? Tag zwei und Amerika ist wie ein Videospiel, jeder Amerikaner ein Fabelwesen.
Vielleicht sind wir gar nicht hier, denke ich auf dem Rückweg zu unserem Hotel, ich habe 22 Stunden nicht geschlafen. Stattdessen hat uns jemand VR-Brillen aufgesetzt und wir laufen in einer Simulation herum, ein visueller Durchschnitt aller Folgen aus Friends, Brooklyn 99 und Law & Order. Weil es New York gar nicht gibt, sondern nur die Vorstellung von New York. Weil New York eine Fiktion ist, ein Filmset, ein Postkartenmotiv. Vielleicht gibt es nur Gießen, sage ich zu Iven. Vielleicht gibt es nur den Harz.
Die in diesem Text geäußerten Ansichten sind ausschließlich die der Autorin und spiegeln nicht notwendigerweise die Meinung oder Position des Goethe-Instituts wider.