Hier in Philadelphia kann ich die Berliner Mauer nicht berühren. Hier in Philadelphia ist die Berliner Mauer hinter Plexiglas. Die hat ein Freund von mir verschifft, das hat uns auch nichts gekostet! Wir hatten zwei Stücke der Berliner Mauer, eines hat jetzt die Botschaft. Es ist das, was im schlechteren Zustand war, sagt uns der ältere Herr, der Sonali und mir gerade die German Society of Pennsylvania zeigt. Die Society hat ihren Sitz in einer, für amerikanische Verhältnisse, alten Villa von 1888. Sie ist die älteste Vertretung einer Staatsgemeinschaft in den USA, sagt er. Damals gegründet um für die Rechte der emigrierten Deutschen einzutreten, die nach der Ankunft die Überfahrt mit Knochenarbeit zurückzahlen mussten. Heute geht es hier darum die deutsche Kultur aufrechtzuerhalten, sagt uns der Herr aus Leipzig, wo Sonali und ich am Deutschen Literaturinstitut studieren und wohin er nach dem Fall der Mauer wieder zurückgekehrt ist. Weil es Arbeit zu tun gab, wie er sagt. Ich hatte ja schon die Familie hier, sagt er und meint damit Pennsylvania. Aber ich habe mich der Landschaft angenommen, in der meine Familie früher ein Gut hatte, auf dem Gebiet, in dem in der DDR Kohle gefördert wurde und die deswegen verschwunden ist. Kohle enthält in Leipzig mehr Schwefel als im Ruhrpott, sagt er. Er erzählt mir von der Landschaft seiner Kindheit und von schwarzem Staub, der sich durch die Nutzung fossiler Energie über ihr abgelagert hat und dass er das rückgängig machen wollte: Ich wollte, dass es dort wieder schön aussieht, sagt er und ich denke, sagt er, das habe ich auch geschafft. Heute sind dort um Leipzig herum die Seen, in den wir im Sommer schwimmen gehen, sagen Sonali und ich und lachen. Beim nächsten Mal, wenn ich im Sommer in Leipzig und am See bin, werde ich an ihn denken und daran, dass es hier früher schwarzen Staub geregnet hat.
In Pennsylvania leben die meisten Menschen mit German Heritage. Wir machen aber kein Oktoberfest, sagt der Leipziger uns. Das machen hier alle! Unsere Bierfeste sind aber sehr beliebt, sagt er und ich nicke, während ich einen Schluck Yuengling-Bier trinke. Americas oldest Brewery steht auf der Flasche. Auch die Bibliothek, die uns jetzt gezeigt wird, ist alt, sie im obersten Geschoss der Villa und schon Kulisse für einige Filme gewesen, aber leider leiht sich kein Mensch mehr deutsche Bücher aus, sagt uns der zweite ältere Herr, der uns die Führung durch die Society gibt. Die Bibliothek ist zu einer Forschungsbibliothek geworden mit der Zeit. Wir sprechen die ganze Zeit deutsch. Dann sprechen wir über Fußball. Sein Team, Borussia Mönchengladbach und meines, der Hamburger Sportverein, haben sich zuletzt unentschieden getrennt. Wir zucken mit den Schultern. Sonali hat dazu nichts zu sagen, aber die Männer adressieren auch eher mich, als sie und außerdem trinkt sie kein Bier, sondern Wein und mit Fußball kann sie auch nichts anfangen. Naja, eigentlich wollten wir eure Lesung hier veranstalten, zwischen den ganzen Büchern, sagen die Beiden, aber die Renovierungsarbeiten sind hinter dem Zeitplan und der hintere Teil des Lesesaals ist immer noch verhangen.
Unser Abend findet im Furnierholz-verkleidetem Kellersaal der Society statt. An den Wänden hängen geschnitzte Wappen der deutschen Bundesländer. An der Säule, neben der ich sitze hängt das weiße Pferd auf rotem Grund. Niedersachen, wohin auch immer ich gehe. Es sieht hier so aus, wie in den Schützenvereinsräumen, in denen meine Freunde von früher ihre Geburtstage gefeiert haben und es riecht hier auch so. Wir werden vorgestellt, wir sprechen mittlerweile Englisch, als Writers from Germany on a tour through the United States. Sonali liest einen Text in perfektem Englisch, mit britischer Aussprache. Ich lese einen Text in einem Englisch und in einer Aussprache, die hier verstanden wird, mir aber peinlich ist. Dann beantworten wir Fragen aus dem Publikum. Als eine Deutschlehrerin wissen will, ob wir den zunehmenden Einfluss der englischen auf die deutsche Sprache als bedrohlich empfinden, sprechen wir darüber, dass es gut ist, dass sich Dinge verändern. Die Ausführungen über Sprachwandel, Einfluss von lange nicht mit Einbezogenen in die Literatur hallen Mikrofon-verstärkt durch den Saal. Dann darf jemand eine letzte Frage stellen und verirrt sich in seinen Ausführungen, die zu keiner Frage führen bis nach Russland. Was denn nun von Dostojewski zu halten ist wird heute Abend unbeantwortet bleiben. Russland ist uns hier heute fern, Deutschland ist uns nah. Nur wenig später werden russische Drohnen in europäisches Gebiet eindringen.
Die in diesem Text geäußerten Ansichten sind ausschließlich die des Autors und spiegeln nicht notwendigerweise die Meinung oder Position des Goethe-Instituts wider.