Rosinenpicker  Zwölf Monate Krise

Buchcover © Berenberg, HarperCollins, C.H. Beck, Molden / Canva

Unsere Gegenwart ist von Krisen geprägt. Blicken wir hundert Jahre zurück, stellen wir fest: 1923 war es nicht besser.

Spätestens seit Florian Illies' Erfolg mit seinem Buch 1913. Der Sommer des Jahrhunderts (2012) sind Bücher über einzelne ausgewählte Jahre in Mode. 1923 war offenbar so viel los in Deutschland, dass zahlreiche  Autor*innen etwas dazu schreiben mussten. Ruhrbesetzung, Hyperinflation, Aufstände der Kommunisten und Hitlerputsch sind die gängigsten Schlagworte zu diesem historischen Jahr.

Totentanz an der Endstation

Süß: 1923 © Berenberg Peter Süß geht in impressionistischer Manier an sein Thema  heran. Mit 1923. Endstation. Alles einsteigen! entwirft er ein abwechslungsreiches Panorama. Süß arbeitet chronologisch, jeder Monat bekommt sein Kapitel. Darin werden Szenen aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären geschickt gegeneinander geschnitten. Neben den politischen Ereignissen geht es um Kurt Tucholsky als Banklehrling, um die eifersüchtige Käthe Kollwitz, den vom Okkultismus faszinierten Thomas Mann, die größte Ladendiebin der Welt oder um ein Erdbeben in Japan. Und Otto Dix und George Grosz werden vor Gericht gezerrt.

Die filmische und unterhaltsame Herangehensweise ist sicher der jahrzehntelangen Tätigkeit von Süß als Autor und Produzent mehrerer Daily ­Soaps und Tele- bzw. Dailynovelas zu verdanken. Entsprechend heißt die Einleitung des Buches „Aufblende“.

Hoffritz: Totentanz © HarperCollins Ein weiteres Potpourri aus historischen Ereignissen, angereichert mit diversen Anekdoten, liefert die Journalistin Jutta Hoffritz mit Totentanz. 1923 und seine Folgen. Sie erzählt insbesondere von den Auswirkungen der Hyperinflation auf die unterschiedlichsten Persönlichkeiten. Es treten unter anderem auf: die skandalumwitterte Tänzerin Anita Berber, Ruhrbaron und Inflationsgewinnler Hugo Stinnes, Reichsbankpräsident Rudolf Havenstein und wieder die Künstlerin Käthe Kollwitz.

Geschichte nicht nur vom Ende her denken

Ullrich: Deutschland 1923 © C.H. Beck Wer eine strukturiertere politische und wirtschaftliche Darstellung sucht, dem sei Deutschland 1923 von Volker Ullrich empfohlen. Der Historiker und langjährige ZEIT-Redakteur sieht Deutschland „am Abgrund“ und beginnt mit einem Tagebucheintrag von Thomas Manns Schwiegermutter Hedwig Pringsheim am Silvesterabend 1922: „Möge 1923 besser werden, als dies nach jeder Richtung schlimmste 1922. Amen!“ Dieser Wunsch wurde bekanntlich nicht erfüllt, es wurde alles schlimmer. Die Weimarer Republik geriet von verschiedenen Seiten in Gefahr. Und auch wenn die Währungsreform Ende 1923 das Land zunächst etwas stabilisierte, war das bekanntlich nicht von Dauer. Ullrich gliedert sein gut lesbares Buch in acht Themenblöcke sowie einen abschließenden Ausblick, in dem er die Geschichte nicht nur vom Ende her denkt, also von der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933. Vielmehr zeigt er auch alternative Entwicklungsmöglichkeiten auf. Gerade das Jahr 1923 ist für ihn ein Beweis für die – wenn auch nur vorübergehende – Widerstandsfähigkeit der ersten deutschen Demokratie: „Dass sich die Weimarer Republik auch unter den extremen Belastungen dieses Jahres behauptete, ist in jedem Fall ein starkes Argument gegen die Annahme, sie sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen.“

Longerich: Außer Kontrolle © Molden Der NS-Spezialist Peter Longerich hat mit Außer Kontrolle. Deutschland 1923 „eine elementare und systematische, in den punktierenden Zusammenfassungen geradezu lehrbuchartige und durch zahlreiche Karten, Grafiken, Fotos illustrierte Darstellung“ vorgelegt, so Erhard Schütz in der Wochenzeitung der Freitag. Der Historiker argumentiere klar und pointiert. Eine seiner Hauptthesen sei, dass der Hitlerputsch eine Militärdiktatur durch General Hans von Seeckt verhindert habe. Seeckt, eigentlich ein Gegner der Weimarer Republik, wurde als Reichswehrchef von Reichspräsident Ebert die oberste Exekutivgewalt zur Sicherung des Reiches übertragen. Da er loyal blieb, wurde Seeckt zum Retter der Republik wider Willen.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Jutta Hoffritz: Totentanz. 1923 und seine Folgen
Hamburg: HarperCollins, 2022. 336 S.
ISBN: 978-3-365-00130-1
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Peter Longerich: Außer Kontrolle. Deutschland 1923
Wien: Molden, 2022. 320 S.
ISBN: 978-3-222-15102-6
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Peter Süß: 1923. Endstation. Alles einsteigen!
Berlin: Berenberg, 2022. 368 S.
ISBN: 978-3-949203-37-4
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Volker Ullrich: Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund
München: C.H. Beck, 2022. 441 S.
ISBN: 978-3-406-79103-1
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