Rosinenpicker  Durch Europa – Zug um Zug

Buchcover: Europa – wo bist du? © dtv / Canva

Interrailticket, Rucksack, Rechner, Notizblock: Alex Rühle hat bei seiner Europarundreise nur leichtes Gepäck. Aber einige gewichtige Fragen: Was ist die Europäische Union heute? Gelten ihre einstigen Werte noch? Rühle sammelt grenzüberschreitend Antworten aller Art – und Bahnkilometer in fünfstelliger Höhe.

Rühle: Europa - wo bist du? © dtv Am 24. Februar 2022 überfiel Russland den souveränen Staat Ukraine: vorläufiger Höhepunkt einer von tiefen Krisen gekennzeichnete Phase für die Europäische Union – ein politisches Gebilde, das einst als großes Versprechen gestartet ist und das sich in letzter Zeit mit den konfliktträchtigen Themen Zuwanderung und Integration, Klimawandel, Brexit, Corona, einem stärker werdenden Nationalismus und schließlich dem brutalen und nun schon ein Jahr währenden Krieg an seinen östlichen Grenzregionen beschäftigen musste. Gerade im Zusammenhang mit Letzterem werden vermehrt der Zusammenhalt und die Werte der EU beschworen. Aber was verbirgt sich dahinter, und wo könnte man mehr über deren Substanz erfahren?

Alex Rühle, langjähriger Kulturreporter der Süddeutschen Zeitung und derzeit deren Skandinavien-Korrespondent, will es genauer wissen und macht sich im März 2022 auf den Weg. Mit dem Zug und einem Interrailticket im Gepäck – im Übrigen ein bis heute erfolgreiches europäisches Projekt: Zu Beginn der 1970er-Jahre führten 21 europäische Eisenbahngesellschaften diese Fahrkarte ein, um jungen Personen bis 21 Jahren zu ermöglichen, preisgünstig kreuz und quer durch einige Länder des Kontinents zu fahren. Inzwischen hat man das Einzugsgebiet vergrößert, das Ticket wurde ausdifferenziert und die Altersbeschränkung aufgehoben. Sodass auch der 1969 geborene Autor Interrail nutzen konnte, um sich im wahrlich gerade „aufgewühlten Kontinent“, so der Untertitel seines Buches Europa - wo bist du?, umzusehen. 

Alles beginnt in Griechenland

Seine erste Fahrt bringt ihn nach Athen – und Rühle nennt zwei Gründe für diesen Startpunkt: Zum einen ist es die Stadt „in der Perikles einst die Demokratie beschrieb als die Staatsform in der die ‚staatlichen Angelegenheiten nicht das Vorrecht einiger, sondern das Vorrecht vieler sind‘“. Außerdem ächzt das Land seit 2010 unter der so genannten Staatsschuldenkrise, die nicht losgelöst von der EU betrachtet werden kann: „Athen war der Ort, an dem das neue Europa erstmals dramatischen Schiffbruch erlitt.“ Rühle will wissen, inwieweit die Griech*innen die Krise überwunden haben, wie sich die rigide Sparpolitik auf das gesellschaftliche Gefüge ausgewirkt hat und wie das gezeichnete Land durch die Pandemie gekommen ist. Auf der Suche nach Antworten trifft sich Rühle – und das ist ein unbedingtes Qualitätsmerkmal des Buches – hier sowie in den folgenden Kapiteln mit Gesprächspartner*innen, die durch ihre tagtägliche Arbeit wissen, was in der Gesellschaft passiert und auch offen darüber sprechen, und die häufig trotz aller Widrigkeiten positiv besetzte Werte wie Solidarität, Empathie, Hoffnung und kämpferischen Geist verkörpern. In der griechischen Hauptstadt gilt Letzteres für den Kardiologen und Armenarzt Giorgos Vichas, während die Lehrerin Artemis Kliafa kein Blatt vor den Mund nimmt: „Wir haben die Verarmung Griechenlands in unseren Klassenzimmern miterlebt. Kinder, die im Unterricht umkippten wegen Mangelernährung … Ganze Klassen, in denen die Eltern arbeitslos waren …“ Ihre Schlussfolgerung stellt der EU das schlechtmöglichste Zeugnis aus: „Der Graben zwischen Nord und Süd hat sich doch nur vertieft, wir müssen da raus.“ Aus der EU, meint Artemis Kliafa.  

Mehr Widerstand gegen die Feinde der EU

Kontroverse Impressionen und Meinungen dieser direkten Art prägen Rühles gesamte Bestandsaufnahme, die ihn u.a. nach Belgrad, Sarajevo, Kalabrien, Marseille, Ceuta, Lissabon, Brüssel, Straßburg, Finnland, ins Baltikum, nach Warschau, Budapest und Sofia führt. Immer setzt er sich unmittelbar mit dem Gesehenen und in Gesprächen Erfahrenen auseinander – und mit welcher Leidenschaft und Überzeugung er selbst für ein demokratisches und solidarisches Europa einsteht, wird zum Beispiel deutlich, als er anlässlich des Zwischenstopps in Budapest aus seiner Bewertung der Orbánschen Politik – und der Passivität der EU-Gremien angesichts dessen destruktiver Vorgehensweise – keinen Hehl macht: „Viktor Orbán hat 2010 den ‚Umbau des ganzen Landes‘ angekündigt. Seither schaut ihm die EU dabei zu, wie er die Fundamente der Demokratie abräumt.“

Neben der Beschäftigung mit den jeweiligen politischen Gegebenheiten – etwa dem finnischen Bildungssystem, der EU-Bürokratie in Brüssel und Straßburg, dem Overtourism in Lissabon, den Spätfolgen der Kriege auf dem Balkan, der Abschottung gegen Migrant*innen in Ceuta, der Geschichtsklitterung in einem französischen Freizeitpark – geht es auch noch um das Reisen an sich und das Reisen speziell mit Bus und Bahn. Mal muss Rühle erfahren, dass die Fahrt von Thessaloniki nach Belgrad 14 Stunden dauern würde, weil es keine Zug- sondern nur Busverbindungen gibt und diese auch nur dienstags. Und mal gestaltet sich die Fahrt äußerst idyllisch: „Modelleisenbahn-Landschaftsarchitekten dürfen wahrscheinlich Reisen nach Slowenien von der Steuer absetzen, weil sie sich hier auf kleinstem Raum dermaßen viel Inspiration holen können: zerklüftete Karstgebirge, urwaldgrüne Täler, goldbeschienene Ebenen.“ Gelegentlich gerät das Weltgeschehen auch ganz in den Hintergrund: So ertappt sich Alex Rühle im eleganten Bologna dabei, wie er in seinen „alten Klamotten voller Busgeruch“ vor einem Schaufenster stehenbleibt und „den seidigen Glanz eines schmalen Maßanzugs“ bewundert.

Alternativlos

Es ist diese gelungene Mischung aus essayistischer Erörterung drängender politischer Fragen, der lebendigen Schilderung von Begegnungen mit fast ausnahmslos interessanten EU-Bürger*innen, sowie der Übermittlung von Reiseeindrücken, wie sie beste Freund*innen beim gemeinsamen Abendessen nicht anders erzählen würden, die die Lektüre des Buches so gewinnbringend, anregend und kurzweilig gestaltet. Lässt sich der Autor angesichts vieler ernüchternder Erfahrungen und Erkenntnisse von seiner positiven Einstellung zur Europäischen Union abbringen? Im Gegenteil – wobei er uns, seine Leser*innen, auch ein wenig in die Pflicht nimmt: „Fatalismus ist was für Luschen und Zyniker. Und es ist ja so bequem, Europa verloren zu geben. Sehen Sie weltweit eine bessere Alternative? Was soll denn danach kommen? Man könnte China, Russland und den US-Republikanern gar keinen größeren Gefallen tun, als dieses starke Konstrukt aufzugeben und in die Kleinstaaterei zurückzufallen.“ Ein starkes Plädoyer – durchaus auch für den Kauf eines Interrailtickets. Besser erfahren lässt sich Europa ja kaum.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Alex Rühle: Europa - wo bist du? Unterwegs in einem aufgewühlten Kontinent
München: dtv, 2022. 416 S.
ISBN: 978-3-423-28316-8
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