Rosinenpicker  Das Leben ist ein Spiel

Buchcover: Der Sandkasten © Luchterhand / Canva

Christoph Peters wagt mit seinem neuen Roman ein Spiel: mit der Literatur, dem politischen Tagesgeschehen, dem eigenen Schaffensprozess und dem Lesepublikum.

Peters: Der Sandkasten © Luchterhand Spiele erfordern stets Regeln, nach denen sie funktionieren. In Bezug auf Christoph Peters Roman Der Sandkasten wird das Regelwerk vom Autor selbst mitgeliefert. Auf seiner Webseite berichtet er davon, wie in ihm der Wunsch gereift sei, einen Gegenwartsroman über das politische Berlin zu schreiben. Um einen möglichst aktuellen Bezug zum Zeitgeschehen zu garantieren, habe er sich selbst auferlegt „die Geschichte an genau dem Tag spielen zu lassen, an dem ich anfangen würde ihn zu schreiben – ohne die Reflexionsdistanz, die ich sonst immer gebraucht habe, ohne das Wissen des Rückblicks“. Dieser Tag, so will es der – möglicherweise vom Spielleiter manipulierte – Zufall der Entstehungsgeschichte, war der 9. November 2020: ein historisch höchst aufgeladenes Datum und ein grauer Herbsttag mitten in der zweiten Welle der globalen Covid-19-Pandemie und direkt nach der Abwahl Donald Trumps als US-Präsident.

Mit der stilisierten Entstehungsmythologie des Romans entzieht sich Peters spielerisch der Verantwortung für die behandelten Themen – sie wurden ihm, der Logik des literarischen Spiels folgend, vom Tagesgeschehen gewissermaßen verpflichtend in die Hände gelegt. Ähnlich verhält es sich mit der Struktur des Romans. Bereits im Vorwort wird darauf hingewiesen, dass „motivische und kompositorische Parallelen zu Wolfgang Koeppens Roman Das Treibhaus beabsichtigt und Teil des Spiels“ seien.

Vom Treibhaus in den Sandkasten

Koeppens Romanvorlage gilt als Klassiker der deutschen Nachkriegsliteratur. Der Titel verweist gleichermaßen auf die Kessellage der ehemaligen westdeutschen Bundeshauptstadt Bonn im bisweilen tropischen Rheintal, als auch auf das politische Klima der muffig-konservativen Adenauer-Ära. Peters greift Motive und Handlungsstruktur seines Vorgängers auf und überträgt diese auf das Berlin der ausklingenden Regierungszeit Angela Merkels. Auch bei Peters dient der Romantitel für zweierlei zugleich: als geografischer Verweis auf den märkischen Sand, auf dem Berlin gebaut ist, sowie als Indikator für den Zustand des politischen Betriebs. Der Sandkasten steht sinnbildlich für eine politische Kultur der Infantilität und der Machtspiele – „längst zum sinnfreien Ritual verkommen, Demokratietheater“.

Die Darsteller*innen in diesem Theater sind recht eindeutig zu identifizieren. Wie Koeppen hat auch Peters einen Schlüsselroman geschrieben: Hinter den Figuren seiner Erzählung lassen sich ohne große Anstrengung bekannte deutsche Bundespolitiker wie Karl Lauterbach, Christian Lindner oder Wolfgang Kubicki identifizieren. Ob diese Charaktere ihre im Roman sehr stark überzeichneten Persönlichkeiten dem Schreibstil Peters zu verdanken haben oder doch näher an der Realität sind, als uns lieb sein könnte, sei dahingestellt. Der explizite Verweis darauf, dass vermeintliche Ähnlichkeiten mit realen Personen „dem Zufall oder den unabänderlichen Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Natur“ zuzuschreiben seien, ist wiederum Teil des literarischen Spiels.

Der belastende Druck des Treibhauses ist hingegen auch bei Peters nicht gewichen, sondern hängt vielmehr omnipräsent über dem Sandkasten von Berlin-Mitte. Sein Protagonist – der unaufhörlich alternde Radiomoderator Kurt Siebenstädter – ist ein stetig schwitzender, ewig Getriebener und gleichsam zutiefst aus der Zeit gefallener Teilhaber des Politbetriebs. „In Wahrheit glaubte er nichts und letztlich nicht einmal das.“ Dass dieser brutal ehrliche Nihilismus im Angesicht einer Weltlage, die vermehrt zu klaren Bekenntnissen auffordert, keine Zukunft haben wird, ist absehbar. Der perspektivische Untergang Siebenstädters ist nicht zuletzt durch seinen literarischen Vorfahren vorgezeichnet – Koeppens Treibhaus ist Teil der sogenannten Trilogie des Scheiterns.

Kein Siebenstädter-Tag

Stilistisch reiht sich Peters Roman in die Tradition der literarischen Moderne ein und erinnert bisweilen an Ulysses, das Meisterwerk des irischen Autors James Joyce. Leser*innen begleiten den Protagonisten einen ganzen Tag lang bei seinen bisweilen mythisch erscheinenden Streifzügen durch die gespenstisch ausgestorbene Großstadt. Die Narration ist geprägt von ausschweifenden inneren Monologen, die direkte Einblicke in das Seelenleben Siebenstädters geben. Diese lesen sich nicht immer angenehm – unser Anti-Held ist ein alter weißer Mann im schlechtesten Sinne und kein Sympath. Eine sprachliche Sogwirkung entsteht durch das ewig gehetzte Naturell Siebenstädters jedoch durchaus und die drastische Überzeichnung seiner Figur gehört vermutlich ebenfalls zum Spiel mit den Leser*innen.

Ulysses spielt am 16. Juni, und zu Ehren des Protagonisten Leopold Bloom feiern Joyce-Aficionados weltweit an diesem Tag alljährlich den „Bloomsday“. Einen „Siebenstädter-Tag“ wird zukünftig am 9. November – nicht nur aufgrund des historisch belasteten Datums – wohl niemand feiern.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Christoph Peters: Der Sandkasten. Roman.
München: Luchterhand, 2022. 256 S.
ISBN: 978-3-630-87477-7