Rosinenpicker | Literatur  Aus dem Leben einer „betrojerinki“

Eine Pflegerin stützt eine ältere Dame, die mit einem Rollator geht
Eine Pflegerin stützt eine ältere Dame, die mithilfe eines Rollators geht © picture alliance / dpa Themendienst | Klaus-Dietmar Gabbert

In ihrem Debütroman erzählt Mia Raben die Geschichte einer polnischen Pflegekraft in Deutschland. Die reist anfangs ausgebrannt nach Hamburg, erlebt dann aber dort ein unerwartetes Happy End.

Die Journalistin und Autorin Mia Raben hat eine polnische Mutter und einen deutschen Vater. In ihrem Elternhaus wurde nur Deutsch gesprochen, doch Mia Raben interessierte sich von klein auf für das Herkunftsland ihrer Mutter. Motiviert durch häufige Besuche bei der Verwandtschaft in Łódź, bemühte sie sich als Heranwachsende um die polnische Sprache. Nach dem Abitur ging sie Mitte der 1990er-Jahre nach Krakau und belegte dort einen Polnisch-Kurs.

Zwischen Warschau und Hamburg

Wieder zurück in Deutschland, begann sie ihre journalistische Karriere, studierte an der Berliner Journalistenschule und lebte in den Nullerjahren eine Zeit lang als freie Korrespondentin in Warschau. Dort fühlt sie sich zwar bisweilen als Hochstaplerin in diesem für sie „so vertrauten und gleichzeitig fremden Land“, doch sie ist fasziniert von der großen Liebe zur Freiheit und zu den Menschen –  Eigenschaften, die bei den Deutschen mit ihrem „Hang zu Strenge und Konformität“ etwas unterentwickelt sind. Gemäß Raben zeigen die Deutschen gegenüber Polen selten Neugier oder Wohlwollen, sondern reagieren meist von oben herab mit einer „Mischung aus Betroffenheit und Mitleid“ (zitiert nach einem Portrait von Mia Raben auf der Website Porta Polonica, einer Dokumentationsstelle zu Kultur und Geschichte der Polen in Deutschland).

In Warschau beginnt Raben, kurze Geschichten zu schreiben. 2007 führt ihr Lebensweg sie wieder nach Deutschland, sie bekommt zwei Söhne und arbeitet weiter journalistisch. Doch das literarische Schreiben behält sie bei, studiert in Leipzig Kreatives Schreiben und erhält Ende 2022 ein Recherchestipendium der Hamburger Kulturbehörde und des Hamburger Literaturhauses. Diese Recherchen in Łódź, der Geburtsstadt ihrer Mutter, flossen in ihren Debütroman Unter Dojczen ein. Mia Raben sprach dort mit Arbeiterinnen in der Textilindustrie, von denen nicht wenige ihren Job verloren hatten, weshalb sie sich gewungen sahen, als Pflegekräfte nach Deutschland zu gehen.

Raben: Unter Dojczen (Buchcover) © Kjona

Wie Pakete vor einer Haustür

Hauptfigur in Mia Rabens Buch ist die Mittfünfzigerin Jola. Die arbeitet seit Jahren als Altenpflegerin in Deutschland und ist nicht nur durch die harte Arbeit gezeichnet, sondern hat auch Rassismus, Klassismus sowie Ausbeutung erlebt und ist durch persönliche Demütigungen traumatisiert. Aufgrund eines Burn-outs muss sie eine Pause einlegen. Doch weil sie Schulden bei einem polnischen Kredithai hat, kann sie sich keine lange Auszeit leisten.

Also sitzt sie am Anfang des Romans wieder in dem vertrauten Kleinbus, der sie und viele andere Polinnen und Polen zum Arbeiten nach Deutschland bringt. Für die Pflegekräfte, die sich selbst „betrojerinki“ nennen, fasst sie diese Situation so zusammen: „Die meisten waren neu, sie pendelten erst seit Kurzem und dachten noch, sie hätten das große Los gezogen. Daneben die alten Hasen, die sich längst daran gewöhnt hatten, vor irgendeiner deutschen Haustür abgeliefert zu werden wie Pakete. Sie selbst war eins davon.“

Hamburg als Glücksfall

Jolas Ziel ist diesmal Hamburg. Sie hofft auf bessere Arbeitsbedingungen, da sie nun offiziell angemeldet ist und im Auftrag einer Agentur arbeiten wird: mit anständigem Gehalt, Versicherung und festen Arbeitszeiten. Sie landet in einer Hamburger Villengegend im Haus einer Arztfamilie, hat dort sogar eine eigene kleine Wohnung und kann ihr relatives Glück gar nicht fassen. Sie muss sich um die Großmutter namens Uschi kümmern, die laut ihrer Schwiegertochter „nicht ganz einfach ist“. Ein Kontrollfreak, manipulativ und „krankhaft eifersüchtig“ sei sie. Einige Pflegekräfte hätten sich an Uschi die Zähne ausgebissen.

Uschi ist ziemlich auf der Höhe, aber tatsächlich eigensinnig und kratzbürstig. Doch Jola beweist viel Fingerspitzengefühl und findet schnell einen guten Draht zu ihr – vielleicht auch, weil Uschi als Kind in Ostpreußen aufgewachsen war und dort ein geliebtes polnisches Kindermädchen hatte. 

Schattenseiten

Neben der sich entwickelnden Beziehung zwischen Jola und Uschi hat der Roman noch einen Seitenstrang. Auf der Busfahrt nach Hamburg hatte Jola Kuba kennengelernt, einen Handwerker, den sie anfangs als versoffenes Landei aus Masuren abtut. Dennoch gefällt ihr Kubas etwas altmodischer Charme und seine Höflichkeit. Später vermittelt sie ihm einen Job über Uschis Sohn. Als Kuba zwischenzeitlich obdachlos ist und Jola ihn heimlich in der Sauna des Hauses übernachten lässt, führt das zu einem Konflikt.

Auch von den Schattenseiten in Jolas Leben wird erzählt. So führte ihre jahrelange Arbeit in Deutschland dazu, dass sie sich von  ihrer mittlerweile erwachsenen Tochter Magda entfremdet hatte. Der Kontakt war sogar vollkommen abgebrochen, da Jola sich aus Geldnot sogar gezwungen sah, Magdas Sparbuch zu plündern. Lange Zeit feilt Jola an einer ehrlichen und versöhnlichen E-Mail, die sie ihrer Tochter schicken will.

Utopie mit sprachlichem Zuckerguss

Mia Raben greift mit ihrem Roman ein zwar in Medien und auch Sachbüchern häufiger bearbeitetes Thema auf, in literarischen Werken kommen Pflegekräfte jedoch kaum vor. Sie erzählt Jolas Geschichte schnörkellos und unprätentiös, streut immer wieder ein paar Sätze Polnisch ein.

Bei diesem problembeladenen Thema hätte Raben leicht eine desillusionierende Geschichte über die Ausbeutung osteuropäischer Pflegekräfte erzählen können. Doch sie schlägt einen versöhnlichen Ton an. Jola und ihre „seniorka“ Uschi kommen sich näher, Jola eröffnet sich schließlich eine überraschende Perspektive, sogar für Kuba gibt es ein Happy End. Ein paar „Ausrutscher ins Kitschige“ und etwas „sprachlichen Zuckerguss“, so Juliane Bergmann auf NDR Kultur, gibt es schon, aber Raben hat sich eben nicht für eine ganz und gar trostlose und abgründige Zustandsbeschreibung entschieden, sondern für eine – etwas märchenhafte – Utopie.
Mia Raben: Unter Dojczen. Roman
München: Kjona, 2024 224 S.
ISBN: 978-3-910372-27-6
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