Rosinenpicker | Literatur  Thomas Mann auf Talfahrt

Leerstehendes Gebäude in Schwerin-Lankow, Mecklenburg-Vorpommern
Leerstehendes Gebäude in Schwerin-Lankow, Mecklenburg-Vorpommern Niteshift, CC BY 3.0 , via Wikimedia Commons

Heinz Strunk bringt Thomas Manns „Zauberberg” in die Ebene. Aus dem Sohn einer Kaufmannsfamilie wird ein Mittdreißiger, der sein Start-up-Unternehmen verkauft hat. Nicht die Lunge pfeift, sondern die Psyche leidet.

Bereits Heinz Strunks letzter Roman Ein Sommer in Niendorf (2022) wurde mit Thomas Mann verknüpft, als norddeutsche Variation von Manns Erzählung Der Tod in Venedig. Und auch in seiner Persiflage auf Schriftstellertagebücher Nach Notat zu Bett (2019) durfte der alte Hanseat nicht fehlen: „Man müsste Tagebuch führen wie Th. Mann… statisch, lapidar, meteorologische Begleitumstände, was und wo gegessen, wer wen wann besucht und gegenbesucht hat, Fressen, Krankheiten, fertig.“

In seinem neuen Roman Zauberberg 2 hat er Thomas Manns 1924 erschienenes Monumentalwerk  gleich in den Titel aufgenommen. Die silbrig schillernde Typografie auf dem Cover ist ein ironischer Verweis auf den Fortsetzungsfilm Terminator 2 mit Arnold Schwarzenegger.

Strunk: Zauberberg 2 (Buchcover) © Rowohlt

Alles eine Nummer kleiner

Strunk maßt sich nicht an, einen neuen Zauberberg geschrieben zu haben. Bei ihm ist alles eine Nummer kleiner. Der Protagonist Jonas Heidbrink, ein ehemaliger Start-up-Unternehmer, der seine Firma verkauft hat, will anfangs nur ein paar Wochen bleiben und bleibt dann zwar ein Jahr, was allerdings nichts ist im Vergleich zu den sieben Jahren, die Hans Castorp in seinem Berg-Sanatorium im schweizerischen Davos verbringt.

Statt im Hochgebirge befindet sich Heidbrinks Klinik im flachen und sumpfigen Niemandsland Mecklenburg-Vorpommerns nahe der polnischen Grenze. Auch die intellektuelle Fallhöhe ist bei Strunks Figuren wesentlich niedriger, man kann sie bestenfalls als Anlehnung an die Figurenwelt des großen Vorbilds betrachten.

Das Leben als Privatier hat Heidbrink in einen depressiven Zustand versetzt. Er bekommt in der Badewanne grundlos Weinkrämpfe, das Leben erscheint ihm als „endlos sich aneinanderreihende Tage, die leer vor mir stehen, ein dauerhafter Zustand aus Angst, Panik, quälender Langeweile, Aussichtslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und alle anderen Losigkeiten“. In dem Anamnesegespräch mit seinem behandelnden Arzt Dr. Reuter relativiert er seinen Zustand als „pubertären Weltschmerz“, außerdem werde heutzutage jede Stimmungsschwankung „gleich zur Depression hochgejazzt“. Wie Hans Castorp hat auch Heidbrink Vorbehalte gegen „Seelenzergliederung“.

Vitalwerte, Suppe und Langeweile

Es folgt der Klinikalltag, der an Trostlosigkeit und Langeweile kaum zu überbieten ist. Regelmäßig werden seine Vitalwerte gemessen, Heidbrink geht zu diversen Anwendungen, führt belanglose Gespräche im Speisesaal:
Echte Patienten sind viel deprimierender als Film- oder TV-Patienten. Im Unterschied zum turbulenten TV-Krankenhaus-Alltag passiert im wirklichen Krankenhaus nie etwas, keine geilen Ärzte, keine verrückten Besucher, keine Liebesabenteuer, keine Überraschungen, nichts, nur Vitalwerte, Suppe und Langeweile.

Den Figurenkosmos in der Klinik gestaltet Strunk dank seiner guten Beobachtungsgabe in gewohnt souveräner, immer etwas spöttischer Manier. Da gibt es Figuren wie den dicken Uwe, „einer der phlegmatischen, leicht unterbelichtet wirkenden, geschlechtslos-onkelhaften Männer, die, weil sie so harmlos sind, als sympathisch durchgehen“, oder Heinz-Christian, ein sportlicher Erfolgstyp, eigentlich „zu attraktiv für Probleme“ und daher auch „der Einzige in der Runde ohne Büßerkleidung“. Zeissner, „die Verkörperung natürlicher Autorität, einer dieser raumgreifenden Männer, denen sich Heidbrink noch nie gewachsen gefühlt hat“, sondert unablässig und ohne Interesse am Gegenüber „Kalenderweisheiten für die gehobenen Stände“ ab.

Mit dem kettenrauchenden Klaus, Geburtsjahr 1944, freundet sich Heidbrink an. Dieser hat im Rahmen der Gruppentherapie einen Auftritt und erzählt in epischer Breite von seiner Nazi-Familiengeschichte mit hasserfülltem, grausamen Vater. Das erklärt vielleicht auch seinen Hang zu nihilistischen bis derben Zoten: „Ich lass mich auf dem Bauch beerdigen, damit mich alle für immer am Arsch lecken können“, gibt Klaus an anderer Stelle zum Besten.

Mensch, Matsch, Schlamm

Das vorletzte Kapitel namens „Kirgisenträume“ besteht zum Großteil aus Zauberberg-Zitaten – die Quellenangaben dazu finden sich im Anhang des Strunk'schen Buches. Beim großen Meister klingt die Bewertung des menschlichen Lebens bisweilen ganz ähnlich: „Es ist ja gerade, als ob man dabei in den Menschen hineinsähe, wie es da aussieht, – alles ein Matsch und Schlamm.“ In dieser Text-Collage träumt sich Heidbrink mehr als ein Jahr später in die Klinik zurück, die jedoch mittlerweile geschlossen und – wie die Patient*innen – dem Verfall preisgegeben ist:
Die Zeit ist ein Kreis, und der muss sich irgendwann schließen.

Strunks Pastiche an seinem großen Vorläufer zu messen ist müßig. Nichtsdestotrotz liefert er mit seinen sprachlichen Mitteln eine düstere Zeitdiagnose, in der die Figuren in der geschlossenen Gesellschaft Heilanstalt – wie immer bei Strunk – in all ihrer unansehnlichen Körperlichkeit und geistig-moralischen Korrumpierung beschrieben werden. Warten wir also mal ab, wer Zauberberg 3 in 100 Jahren schreiben und wovon er handeln wird.
Heinz Strunk: Zauberberg 2. Roman
Hamburg: Rowohlt, 2024. 288 S.
ISBN: 978-3-498-00711-9
Sie finden diesen Titel auch in unserer Onleihe.