Rosinenpicker | Literatur  Den Stillstand durchbrechen

Fähre am Anleger von Heybeliada, eine der Prinzeninseln nahe Istanbul.
Vielleicht die letzte Fähre? Am Anleger von Heybeliada, eine der Prinzeninseln nahe Istanbul. Foto (Detail): © mauritius images / Rainer Hackenberg

Keine Fähren mehr und keine Touristen – auf der einstigen Ferieninsel leben nur noch die Übriggebliebenen. Die sich in Routinen retten. Und warten. Dann stellt ein Mädchen Fragen und plötzlich ändert sich etwas. Ein Roman über Sinnkrisen und die Freude am Neuanfang.

Es war einmal eine schöne, südliche Urlaubsinsel. Aber von heute auf morgen will sich dort niemand mehr vom Alltag entspannen. Mit fatalen Folgen, denn die sorgenfreie Auszeit der einen bedeutete Arbeit rund um die Uhr, aber eben auch gesicherten Lebensunterhalt für die anderen. Also verließ ein Großteil der Einheimischen die Inselheimat, um woanders ein Auskommen zu finden – zurück blieb eine gute Handvoll Menschen, die im eingeübten Tun verharrte.

Keine Gäste nirgends

Das ist die Ausgangssituation von Nach den Fähren, dem zweiten Roman der in Hannover lebenden Autorin Thea Mengeler. Inspiration für ihren literarischen Schauplatz gaben ihr die vor Istanbul liegenden Prinzeninseln. Dort ist sie eine Zeit lang übers Jahr hingefahren, auch im Winter, und hatte sich gefragt: „Was ist, wenn so ein Ort, der hauptsächlich touristisch genutzt wird, plötzlich in dieser Nebensaison … verharrt?“ Und so stellt sie ihr überschaubares – namenloses – Personal in die Szene und zeichnet nach, wie der Hausmeister, die Bäckerin, die Doktorin, die Frau des Generals und einige wenige mehr mit der nie erklärten Situation umgehen. In kurzen Kapiteln werden die Schauplätze aufgesucht, in denen die Übriggebliebenen versuchen, ihrem Leben auch ohne angestammte Beschäftigung einen Sinn und einen Rahmen zu geben. Der Hausmeister des „Sommerpalasts“, eines einstigen Luxushotels, wischt beispielsweise tagtäglich „den Staub von Regalen und Nachttischen, kehrt den Schmutz auf dem Boden zusammen. … Er schließt die Tür leise, als gäbe es noch Gäste, die er stören könnte, öffnet die Tür zum nächsten Zimmer.“

Mengeler: Nach den Fähren (Buchcover) © Wallstein

Auf der Suche nach Antworten

Aber schon bald nimmt in einem dieser „nächsten“ Zimmer das starre Leben des Hausmeisters und nach und nach auch das der anderen verbliebenen Inselbewohner*innen eine entscheidende Wendung. Denn plötzlich und aus dem Nichts taucht Ada auf, und ebenso plötzlich wird sie wieder verschwinden. Nicht ohne vorher Fragen gestellt zu haben: „Warum putzt du?“ „War es damals besser?“ „Hast du nie daran gedacht, wegzugehen?“ Schließlich: „Wem gehört die Insel?“
Er blickt sie an, ohne zu begreifen. Uns sagt er, natürlich uns. … Wir waren die, die blieben. Wir bleiben noch. Sie antwortet nicht und ihm ist, als übersähe er etwas.
Es sind Fragen, denen sich der Hausmeister nicht entziehen kann – und die Wirkung zeigen. Er öffnet sich, spricht über schmerzliche Erinnerungen, nimmt Abschied, ändert Dinge, überwindet seine Sprödigkeit und übt sich in Nähe: „Später am Abend massiert der Hausmeister der Bäckerin die von der Arbeit verhärteten Schultern.“

Liste der Verluste

Den ganzen Roman durchziehen kurze, fast gedichtartige, sehr verdichtete Kapitel mit dem wiederkehrenden Titel „Einige Verluste“. Dort wird immer wieder Bilanz gezogen – die durchaus gemischt ausfällt:
Was verloren geht, ist die Enge

Das Anstehen am Eisladen
Das Anstehen für Kutschfahrten
das Anstehen für ein Foto mit dem Pfau am Markt
Was verloren geht, ist die Nähe.
Diese Erzählstimme dringt in die Protagonist*innen ein. Irgendwann sind sie sich bewusst, dass es an ihnen ist, die Verluste auszugleichen:
Früher, erzählt er, gab es ein Fest am Ende des Winters.

Ich erinnere mich nicht daran, sagt die Bäckerin. Ich erinnere mich nur an Feste in den Hotels.

Ich glaube, dass man meinte, keine Zeit zu haben für ein eigenes Fest.
Man könnte wieder anfangen, jetzt.

Zeit umzukehren, Zeit Neues zu wagen

Die Krise als Chance – hier ist es nicht eine abgenutzte Floskel, sondern tatsächlich die Chiffre für Veränderung und Aufbruch. Für ein Nachdenken über die Ausrichtung des eigenen Lebens und die befreiende Verschiebung unumstößlich geglaubter, selbst auferlegter Maßregeln. All dies in einer einerseits schmucklos und aufs Wesentliche konzentrierten, andererseits lyrisch-rhythmischen Sprache, deren besonderem Zauber man sich von der ersten Seite an nicht mehr entziehen kann.

Das preiswürdige Wirken unabhängiger Verlage

So sah es auch die Jury des alljährlich im Rahmen der Frankfurter Buchmesse vergebenen Preises der Hotlist. 2024 zeichnete sie damit den Wallstein Verlag aus, der Thea Mengeles Roman, ihren „atmosphärisch dichten Text“ herausgebracht hatte. In dem sei „kein Satz, kein Wort, keine Silbe zu viel“. Die Jurymitglieder freuten sich über ein Buch mit „beeindruckender literarischer Qualität und Reife“.

Schon seit 2009 gibt es den Preis der Hotlist – ein Preis, mit dem ausschließlich unabhängige Verlage ausgezeichnet werden. Zuvor wählt eine Jury aus den Einreichungen der Verlage sieben Titel diverser Genres in die engere Auswahl. Drei weitere Titel gelangen durch eine Internet-Publikumsabstimmung auf die illustre Liste. Eines der zehn, oft auch besonders kunstvoll gestalteten Bücher bzw. sein Verlag erhält den Preis der Hotlist, ein weiterer Verlag darf sich über einen Druckkostenzuschuss freuen. All dies geschieht im Rahmen einer öffentlichen Präsentation während der Frankfurter Buchmesse – eine verdiente Aufmerksamkeit für das oft nur auf den zweiten Blick sichtbare literarische Schaffen unabhängiger Verlage. Mit Thea Mengelers kleinem, feinen literarischen Kunstwerk hat die Jury jedenfalls eine Perle aus dem Ozean der alljährlichen Buchproduktion gefischt, die hoffentlich in vielen heimischen Bücherregalen funkeln wird.
 
Thea Mengeler: Nach den Fähren. Roman
Göttingen: Wallstein, 2024. 175 S.
ISBN 978-3-8353-5585-9
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe