Häusliche Gewalt lässt die Opfer oft hilflos zurück. Menschen, zumeist Männer, überschreiten Grenzen, die nie hätten überschritten werden dürfen. Ruth-Maria Thomas setzt diese harte Thematik in einem zart und leichtfüßig geschriebenen Roman um.
Es sind die heißesten Tage des Jahres. Jella und Yannik genießen ihren letzten Urlaubstag und beobachten den Sonnenuntergang, der alles rosa färbt, „wie das Bier mit Himbeerbrause in unseren Gläsern“. Noch mit der Musik der schlechten Coverband im Ohr, die das Abendessen begleitete, spazieren sie runter zum See. Sie wollen sich abkühlen.Der Wald hinter uns dunkel, über uns Mond, alles silberfarben, alles todesschön. Wenn du ein Moment wärst, Jella, dann wärst du dieser, flüstert Yannik, und ich muss lachen, sage: Ach, du spinnst! Kann aber nicht aufhören zu lächeln, weil es mir so gefällt.
Mit dieser zuckerwattesüßen Szene beginnt Die schönste Version, der Debütroman von Ruth-Maria Thomas. Beim Lesen der ersten Seiten könnte man schnell denken, es handle sich um einen kitschigen Liebesroman, passend zum pastellfarbenen Cover. Doch dieses Cover zeigt auch einen Riss, durch den das Gesicht einer traurigen Frau zu erahnen ist. Es scheint eine zweite, weniger schöne Wahrheit zu geben.
Über den „Riss“ in Jellas und Yanniks Geschichte erfährt man bereits im ersten Kapitel – es setzt auf der Polizeiwache ein. Dort befindet sich Jella, um einen Vorfall von häuslicher Gewalt zu melden. Sie antwortet mechanisch auf die Fragen des Beamten, denn auf viele kann sie sich selbst überhaupt keinen Reim machen.
Und dann? (…) Was ist dann passiert? Ich schaue ihn an. Er hat mir die Hände um den Hals gelegt und mich gewürgt. Warum fragt er nach einem 'dann'`? Der Kolibri in meiner Brust, meine gestorbene Alleswürde. Das ist dann, dann ist jetzt.
In den Tagen nach dem Übergriff sucht Jella nach Antworten. Wie konnte ihre Beziehung zur schlimmsten Version werden? Sie blickt auf ihre Jugend in einer ostdeutschen Kleinstadt zurück, ihre ersten Freundschaften, Partys und Beziehungen. Und sie erinnert sich an den Anfang mit Yannick, den sie mit 21 kennenlernte. Es ist eine weibliche Coming-of-Age-Geschichte, die neben schönen Erlebnissen und zarten Momenten des Glücks auch Erfahrungen von Gewalt enthält.
Die Schuld liegt nie beim Opfer, sie liegt immer beim Täter
Alles beginnt mit den Blicken der Jungs und Männer. Die spüren Jella und ihre neue beste Freundin Shelly sehr genau, als sie in die Pubertät kommen. Es ist eine neue Aufmerksamkeit, die ihnen zuteilwird. Sie fühlen sich als „Frau“ wahrgenommen und wollen dem stets entsprechen. Heute würde man sagen, die beiden jungen Frauen hätten den „Male Gaze“ internalisiert. Male Gaze ist eine Bezeichnung aus der feministischen Filmtheorie und steht für einen männlichen, sexualisierenden Blick. Sie ist auch in jüngeren Generationen mittlerweile fester Bestandteil des Vokabulars im Diskurs über Sexismus.Ein Beispiel für das ständige Abarbeiten am männlichen Blick ist Jellas und Shellys Tradition an Regentagen. Da legten sie ihre Kopfkissen aufs Fensterbrett, lackierten sich die Nägel, aßen Erdbeereis mit Vanillezucker – und machten das Fensterbrett zu ihrer Bühne:
Hier spielten wir in unserem selbst ausgedachten Film die Hauptrollen. Gingen Männer an unserem Fenster vorbei, stellten wir uns vor, was sie wohl von uns denken würden. Sicher fänden sie uns schön, wie wir da so anmutig saßen, unsere schlanken, nackten Beine im Schneidersitz verschränkt oder aus dem Fenster herausbaumelnd. Dass sie uns sicher begehrten, mit uns Sex haben wollten, weil wir so jung und schön waren.
Es wirkt wie ein extremes und vielleicht auch selbstüberschätzendes Verhalten. Doch verdenken kann man es Jella und Shelly nicht, wuchsen sie doch in einer Zeit auf, in der Mädchen und Frauen von allen Seiten auf mehr oder weniger subtile Art und Weise suggeriert wurde, dass es immer nur darum geht, dem heterosexuellen Mann zu gefallen. Es war die Zeit von Britney Spears, von Bravo Girl und Mädchen, die Artikel brachten wie „10 Tipps, wie du attraktiver für deinen Schwarm wirst!”, „Das mögen Jungs wirklich an Mädchen!”, „So schaffst du es, dass er dich will!” Doch der ständige Kampf ums Gefallen, ums Begehrt- und Gesehenwerden führt auch bald dazu, dass Jella sich in Situationen wiederfindet, in denen Männer im Umgang mit ihr Grenzen überschreiten, die nie hätten überschritten werden dürfen. Was bleibt, sind Hilflosigkeit und quälende Fragen nach der „Schuld”: Hätte sie deutlicher Nein sagen sollen? War ihr Wegschubsen zu zaghaft, zu spielerisch? Und hatte sie das übergriffige Verhalten nicht auch provoziert mit ihrem kurzen Rock?
Ähnliche Fragen stellt sich Jella nach Yanniks Übergriff: Hatte sie ihn provoziert? War sie eine schlechte Freundin gewesen? Der Roman formuliert keine Antworten, aber durch das detaillierte Nacherzählen ihrer Beziehung versteht man, warum es Jella schwerfällt, ihren Freund anzuzeigen. Ist doch der Mann, der ihr die Hände um den Hals legte, der gleiche, der sie lächelnd mit Gebäck in der Pause ihres Bibliotheksjobs überraschte, nur um 20 Minuten Zeit mit ihr verbringen zu können.
2024 verkündete das Bundeskriminalamt, dass die Zahlen von polizeilich registrierter häuslicher Gewalt nahezu kontinuierlich ansteigen, in den letzten fünf Jahren um schockierende 19,5 Prozent. Vor dem Hintergrund dieser traurigen Statistik gewinnt dieser, trotz seiner harten Thematik so zart und leichtfüßig geschriebene Roman umso mehr an Relevanz. Denn während auch die erdrückendsten Zahlen am Ende immer abstrakt bleiben, hat Ruth-Maria Thomas mit Die schönste Version eine Geschichte geschrieben, die eines ganz klar verdeutlicht und erlebbar macht: Die Schuld liegt nie beim Opfer. Sie liegt immer beim Täter.
Hamburg: Rowohlt, 2024. 272 S.
ISBN: 978-3-498-00695-2
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe
Juni 2025