Rosinenpicker | Literatur  Nachkriegsdinge

Tobi Dahmen: Stell dir vor! S. 18-19
Tobi Dahmen: Stell dir vor! S. 18-19 © Tobi Dahmen / avant-verlag

In einer Anthologie lassen sich die beteiligten Künstler*innen von Gegenständen inspirieren und erzählen in kurzen Comic-Geschichten von der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Werner Abresch (1941-2024), langjähriger Pfarrer in Wesel, war ein leidenschaftlicher Sammler. Er sammelte seit den 1980er Jahren besondere historische Gegenstände, die eine Geschichte über ihre einstigen Besitzer erzählen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde manches auf ungewöhnliche Weise upgecycelt. Eine Hakenkreuzfahne wurde zur Schürze, aus einem abgestürzten amerikanischen Bomber entstand eine Zahnbohrmaschine, eine Artillerie-Hülse diente als Vase, und ein Stahlhelm der Wehrmacht wurde in ein Küchensieb umfunktioniert. Als der Comic-Zeichner Tobi Dahmen von der Sammlung Abresch, die 2021 von der Stiftung Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen übernommen wurde, las, war ihm sofort klar: Die hinter den Alltagsdingen liegenden Geschichten ließen sich doch prima als Comic erzählen. Mit Julia Bernhard, Melanie Garanin, Mikael Ross, Volker Schmitt und Julia Zejn gewann Dahmen fünf weitere Comic-Künstler*innen für dieses Projekt, das nun unter dem Titel Stell dir vor! in Buchform erschienen ist.

Tobi Dahmen hat zwei Comics über Werner Abreschs Leben beigesteuert, die den anderen Beiträgen einen Rahmen geben. Julia Bernhard und Volker Schmitt erzählen die Geschichte eines ehemaligen Wehrmachtsoldaten, der von Beruf Schneider war und die Seide des Fallschirms, der ihm nach dem Abschuss seines Flugzeugs das Leben rettete, in ein Brautkleid verwandelt. Umgesetzt haben Bernhard und Schmitt das in klassischen Panels. Julia Zejns Comic-Geschichte „Kartoffeldiebe“ beschreibt die Bedeutung eines „Hamsterfahrrads“. Nach dem Krieg waren Lebensmittel knapp, und es war üblich, dass Menschen auf die Felder fuhren, um Kartoffeln zu klauen. Bei diesen „Hamsterfahrten“ war ein Fahrrad eine große Hilfe, um die Beute zu transportieren. Gezeichnet hat Zejn das in fast naivem, teils aber auch sehr expressivem Stil.

Stell dir vor! Comics über die Nachkriegszeit © avant-verlag

Vom Schweigen und von Verlusten

Melanie Garanins aquarellierte Tusche-Zeichnungen sind sehr verspielt, skizzenhaft und sprechen Kinder an. In ihrer Geschichte findet ein Junge einen Topf, der aus dem Metall eines eingeschmolzenen Flugzeugs hergestellt wurde, und bringt ihn voller Stolz und Freude nach Hause. Als er und seine Schwester ihre Mutter mit Fragen über die Herkunft des Topfes und den Krieg löchern, kippt die Stimmung – und es wird deutlich, dass die Erwachsenen nicht in der Lage waren, mit der nachfolgenden Generation über Krieg und NS-Vergangenheit zu sprechen.

In einseitigen, schwarz-weißen, reduziert gehaltenen Grafiken erzählt schließlich Mikael Ross die dramatische Geschichte von Willy Hild, eines Musikers des Frankfurter Sinfonieorchesters, der zu Beginn der Nazi-Diktatur denunziert wurde, weil er den Hitlergruß verweigert hatte. In den Folgejahren fiel er den Behörden aufgrund gesundheitlicher Probleme, die aus einer Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg herrührten, mehrfach auf. Da er außerdem als Zeuge Jehovas missionarisch aktiv war, wurde Hild 1938 in Schutzhaft genommen und von der Gestapo ins KZ Buchenwald verschleppt. Da er trotz mehrfacher Folter an seinen religiösen Grundsätzen festhielt, blieb er dort bis zur Befreiung des KZ am 11. April 1945 und musizierte in dieser Zeit für seine Mithäftlinge auf einem Bandoneon, das ebenfalls Teil der Sammlung Abresch ist. Seine Frau sah Willy Hild nicht wieder: „Sie starb einen frühen Tod, der durch ihre und meines Vaters Verfolgung bedingt war“, schrieb die gemeinsame Tochter Elsa.

Aneignung von Geschichte als subjektiver Akt

Die Comic-Anthologie Stell dir vor! bietet aufgrund der lebensnahen Sujets sowie der lebendigen und so unterschiedlichen künstlerischen Darstellung einen anderen, assoziativen Zugang zu Geschichte. Im Gegensatz zu Sachbüchern wird Vieles offen gelassen oder nur angedeutet. Comics behaupten eben nicht, dass es genau so war, sondern sind „Aneignung von Geschichte“ als ein subjektiver Akt, wie es im Vorwort heißt.
Stell dir vor! Comics über die Nachkriegszeit
Berlin: avant-verlag, 2025. 184 S.
ISBN: 978-3-96445-139-2