125. Geburtstag – Anna Seghers  Zentrale Stimme der Exilliteratur

Anna Seghers - eine Porträtaufnahme, um 1975.
Anna Seghers - eine Porträtaufnahme, um 1975. Foto (Detail): © picture-alliance/ / akg-images | akg-images

Anna Seghers: unverwechselbare Erscheinung; eine von den Dramen des 20. Jahrhunderts gezeichnete Biografie; Romane, die ihr Weltruhm brachten. Vor 125 Jahren wurde die lebenslang engagierte Schriftstellerin in Mainz geboren.

Als Anna Seghers am 19. November 1900 zur Welt kommt, heißt sie noch Netty Reiling. Die Tochter des Kunst- und Antiquitätenhändlers Isidor Reiling und dessen Frau Hedwig studiert in Heidelberg und Köln: Kunstgeschichte, Geschichte, Sinologie und Philologie. 1924 veröffentlicht sie nicht nur ihre Dissertation Jude und Judentum im Werk Rembrandts, sondern die Frankfurter Zeitung publiziert ihre erste Erzählung: Die Toten auf der Insel Djal – mit dem Namen „Antje Seghers“ verzeichnet. 1927 erscheint die Erzählung Grubetsch. Weil in der Autorenzeile lediglich „Seghers“ steht, vermutet ein Kritiker, sie stamme von einem Mann.

Literarisch produktiv, politisch engagiert

An ihrem Studienort Heidelberg lernt die Schriftstellerin den exilierten ungarischen Soziologen und Kommunisten László Radványi kennen und lieben. Das Paar heiratet 1925 und findet in Berlin ein neues Zuhause. 1926 kommt Sohn Peter zur Welt, 1928 die Tochter Ruth. Dieses Jahr ist auch in anderer Hinsicht ein biografischer Meilenstein: Als Anna Seghers – so ihr nun für immer beibehaltener Name – veröffentlicht die Autorin ihr erstes Buch Der Aufstand der Fischer von St. Barbara. Auf Vorschlag des Schriftsteller-Kollegen Hanns Henny Jahn erhält das Werk 1929 den renommierten Kleist-Preis. Ebenfalls 1928 wird Anna Seghers Mitglied der KPD und wirkt ab 1929 im neugegründeten Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller mit.

Als Jüdin und Kommunistin ist Anna Seghers nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland in besonderem Maße bedroht. Also wartet sie nicht lange und flieht über die Schweiz zunächst nach Paris, die Familie folgt alsbald. In dieser Zeit ist Anna Seghers literarisch und politisch produktiv und engagiert. So fragt sie in ihrem ersten Exilwerk, dem Roman Der Kopflohn nach den Ursachen für den Nationalsozialismus in Deutschland. Und sie arbeitet bei antifaschistischen Exilzeitschriften mit.

Fluchtziel Mexiko

1940: Die deutschen Truppen marschieren in Frankreich ein – László Radványi wird interniert, Anna Seghers kann aber seine Freilassung erwirken. Die Familie muss wieder flüchten: Erstes Ziel ist Marseille im noch unbesetzten Teil Frankreichs, schließlich geht es über Martinique, Santo Domingo, Ellis Island, Veracruz nach Mexiko-Stadt. All diese Erlebnisse fließen ein in ihren noch in Frankreich begonnenen Roman Transit. Die Schriftstellerin kann sich selbst, Mann und Kinder vor dem Zugriff der Nazis retten, ihre Mutter jedoch wird in ein Ghetto bei Lublin deportiert und dort ermordet.

Grundsteine für den Weltruhm

Trotz vieler Schicksalsschläge und aufwühlender Ereignisse wird Anna Seghers nicht müde, sich auch im mexikanischen Exil für antifaschistische Ziele stark zu machen: Sie gründet den Heinrich-Heine-Klub und wird dessen Präsidentin, sie ruft die Bewegung Freies Deutschland ins Leben und wirkt als Herausgeberin der gleichnamigen Zeitschrift. 1942 erscheint Das siebte Kreuz – auf Englisch in den USA und auf Deutsch im mexikanischen Exil-Verlag El libro libre. Der Roman über die Flucht von sieben Häftlingen aus einem Konzentrationslager während der NS-Diktatur begründet Anna Seghers Ruhm als bedeutende deutsche Schriftstellerin. Die Verfilmung des Werkes 1944 durch Hollywood-Regisseur Fred Zinnemann steigert den weltweiten Erfolg. Im gleichen Jahr kommt Transit heraus - auf Englisch. 1945 folgt die spanische Ausgabe, und erst 1948 die deutsche Fassung dieses Inbegriffs eines Exilromans.  

Funktionsträgerin in der DDR

Schon 1947 geht Anna Seghers nach Deutschland zurück. Sie wohnt zunächst im Westteil Berlins, wird aber als weiterhin überzeugte Kommunistin direkt Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), gegründet in der sowjetischen Besatzungszone der ehemaligen Hauptstadt. Ebenfalls 1947 wird ihr der Büchner-Preis zuerkannt – für Das siebte Kreuz. Das Buch Die Toten bleiben jung, ein sozialistischer Gesellschaftsroman, erscheint im Aufbau Verlag Berlin-Ost und im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main.

1950 beschließt Seghers, nach Ostberlin zu ziehen – und bald hat sie viele Ämter inne: u.a. Mitglied im Präsidium des Weltfriedensrats, Gründungsmitglied der Deutschen Akademie der Künste, Vorsitzende des Schriftstellerverbands der DDR. Mit öffentlichen Äußerungen zugunsten von bei Partei und Staatsregierung in Ungnade gefallenen kritischen Kollegen hält sie sich zurück. Auch bei Ereignissen wie dem Volksaufstand in der DDR 1953 und dem Aufstand in Ungarn 1956 beweist Seghers SED-Linientreue. „Im Rückblick”, so ein Text des MDR anlässlich von Anna Seghers 120. Geburtstag, „bleibt ... zweifellos ein Widerspruch erkennbar zwischen ihrem kämpferischen Humanismus der Exilzeit und der zunehmenden Konformität danach.”

Neben aller Tätigkeit als Funktionärin verfasst Anna Seghers weiterhin Literatur. Die Überfahrt gilt als Höhepunkt ihres Alterswerks. 1978 stirbt ihr Mann, daraufhin zieht sich Anna Seghers aus der Öffentlichkeit zurück. Ihr Todestag ist der 1. Juni 1983, sie wird im Zuge eines Staatsaktes auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beigesetzt.

Bedeutsam bis heute

Hat das Werk der Schriftstellerin Anna Seghers, die 1981 die Ehrenbürgerwürde ihrer Geburtsstadt Mainz erhalten hat, aktuell noch Bedeutung? Unumstrittene Literatur-Klassiker sind vor allem ihre während der NS-Zeit und im Exil verfassen Bücher Das siebte Kreuz und Transit. Für Claudia Cabrera, die die Werke von Anna Seghers neu ins mexikanische Spanisch übersetzt hat, steht fest: „Sie ist die wichtigste Schriftstellerin des deutschen Exils gewesen.“ Es sei sehr bedeutsam, das Gedenken an diese Zeit wachzuhalten, denn „überall in der Welt erstarken gerade rechte und rechtspopulistische Bewegungen, in Europa und auch in den USA. … Der Faschismus wird wieder groß.“ Dagegen stehen das Werk und das Wirken der Antifaschistin Anna Seghers.

Und auch der deutsche Regisseur Christian Petzold meint: „Das Gegenwärtige und das Vergangene sind gleichzeitig da“, und bezieht sich damit auf den von ihm verfilmten Seghers-Roman Transit. Denn „die Flüchtlinge, die 1940 vor den Nazis flohen und in den Hafenstädten Casablanca, Marseille oder Lissabon festhingen, korrespondieren mit den Menschen, die aktuell auf der Flucht sind“. Es ginge in seinem gleichnamigen Film nicht darum, wie es seinerzeit in Marseille gewesen ist. Sondern er wolle zeigen, dass es immer noch so sei wie damals. Denn die Geschichte sei nicht vergangen, sondern sie sei zu spüren. „Darauf kommt es an: dass man die Augen aufmacht.“ Die Schriftstellerin Anna Seghers hat es beispielhaft vermocht, mit ihrer Literatur über Jahrzehnte die Augen zu öffnen.