Preisgekrönter Cannes-Film „In die Sonne schauen“  Wo Erinnerungen wohnen

Ein Mädchen läuft mit zwei Fahnen in der Hand durch ein Feld.
Die Stimmen der anderen im Kopf: Angelika (Lena Urzendowsky) als Erntehelferin. © Fabian Gamper / Studio Zentral

Mascha Schilinskis preisgekrönter Cannes-Film „In die Sonne schauen“ erzählt von vier Mädchen, die zu unterschiedlichen Zeiten an einem Vierseitenhof in der Altmark leben. Ein poetisches Meisterwerk über Erinnerung, Körpergedächtnis und transgenerationales Trauma.

Wo werden Erinnerungen gespeichert? Im Kopf vielleicht. Oder im Herzen. Oder im Körper, Sportler*innen sprechen von „Muskelgedächtnis“. Verliert man ein Körperteil, kann das fehlende Glied trotzdem Schmerzen bereiten – der Körper, die Nerven erinnern sich.

Besondere Auszeichnung in Cannes

Das Fehlen, das Fühlen und die Erinnerung sind die zentralen Themen in Mascha Schilinskis Drama In die Sonne schauen. Ein Film, der 2025 bei den 78. Internationalen Filmfestspielen von Cannes mit dem „Prix du Jury“ ausgezeichnet wurde, dem drittwichtigsten Preis nach der Goldenen Palme und dem „Großen Preis der Jury“.

Es lohnt sich, diese Ehrung genauer zu betrachten, denn noch nie in der langen Geschichte des Festivals feierte eine deutsche Regisseurin diesen Triumph. Die männlichen Kollegen Werner Herzog, Volker Schlöndorff und Wim Wenders waren bislang die einzigen Deutschen unter den Gewinner*innen in den Hauptkategorien. Wenders erhielt neben der Goldenen Palme für Paris Texas im Jahr 1984 sieben Jahre später noch den Großen Preis der Jury für In weiter Ferne, so nah.

Mit Schilinski hatte in Cannes keiner gerechnet. Zuvor hatte sie nur ihren Abschlussfilm Die Tochter an der Filmhochschule Baden-Württemberg realisiert. Doch In die Sonne schauen traf alle unvermittelt ins Herz. Oder in den Körper, oder in den Kopf – dorthin eben, wo die Erinnerungen sitzen: Der Film ist eine Reflexion über Wahrnehmung und Gedächtnis und bedient dabei kein klassisches Narrativ.
Er ist bevölkert von faszinierenden Protagonistinnen: Ein siebenjähriges, blond bezopftes Mädchen namens Alma (Hanna Heckt), das in weißer Schürze und Holzschuhen kurz vor dem ersten Weltkrieg durch einen knarzenden Vierseitenhof in der Altmark läuft; eine junge Frau namens Erika (Lea Drinda), die zum Ende des zweiten Weltkriegs auf demselben Hof lebt; die heranwachsende Angelika (Lena Urzendowsky), die in den 80ern am liebsten aus der Enge des Hofs und der DDR fliehen würde; und die Berlinerin Lenka (Laeni Geiseler), deren Eltern gemeinsam mit ihr und ihrer jüngeren Schwester Nelly in der Gegenwart die Stadtflucht probieren – an eben jenem Vierseitenhof.

Darüber hinaus bewohnen den Hof weitere weibliche Figuren: Mütter, Schwestern, Bedienstete, Tanten und Freundinnen – und natürlich auch Männer wie Almas Bruder Fritz, den seine Eltern vor dem ersten Weltkrieg durch einen grausamen „Unfall“ kriegsuntauglich machten und der in den 40ern zu Erikas einbeinigem, heimlichem Objekt der Begierde wird. Oder Angelikas Cousin Rainer, der von ihren Flirtversuchen überfordert ist, oder ihr Onkel Uwe, dem Angelikas erwachende Sexualität ebenfalls nicht entgeht.

Wenn sich Orte und Geschichte in die Körper einschreiben

Die Verbindung, die die 41-jährige Berliner Regisseurin und Drehbuchautorin zwischen den Figuren, Zeiten und Handlungssträngen knüpft, ist eine körperliche und eine örtliche: Sie scheint in den Knochen, in den Planken des Hauses selbst zu stecken und von dort aus durch geheime Wege in die Köpfe zu diffundieren. Vielleicht sind Frauenschicksale ohnehin global: Nicht nur Alma wird von Erinnerungen heimgesucht, die sie nicht miterlebt hat, auch die anderen jungen Frauen und Mädchen haben Déjà-Vus, wiederholen (unbewusst) Gesten, Worte, Handlungen, entdecken auf Abbildungen Gesichter, die ihnen ähneln.

Die Kamera, geführt von Fabian Gamper, manifestiert die Bewegungen auf zeitlicher und bildlicher Ebene. Wie ein Geist schwebt sie über dem Geschehen, umkreist die Handelnden, schaut ihnen zuweilen direkt ins Gesicht, getragen von einer kindlichen Erzählstimme in echtem, nur noch sehr selten zu hörendem altmärkischem Platt.

Dennoch ist In die Sonne schauen kein sperriger, abstrakter, sondern ein sinnlicher und greifbarer Film, dessen Geschichten anschaulich sind: Fritz hat mit dem Verlust seines Beines den Lebensmut verloren; eine Magd wurde – wie damals üblich – zwangssterilisiert; als die Rote Armee näherzukommen droht, wählen ein paar Frauen den Massensuizid; auch Angelika möchte irgendwann am liebsten aus dem Bild, genauer einem Polaroidfoto verschwinden. Und in der Gegenwart tuschelt Lenkas Familie vom Krebstod der Mutter ihrer neuen Freundin Kaya.

Eine sensible Bildsprache mit universeller Wirkung

Anders als Regisseur*innen wie etwa Michael Haneke, der in Das weiße Band die bäuerliche Strenge und Enge anhand von atmosphärischen und sehr konkreten Storylines und Szenen erzählt, verlässt sich Schilinski auf das nicht fassbare, aber fühlbare transgenerationale Trauma und nutzt es wie eine unsichtbare Hauptperson. Die sensible Bildmontage von Evelyn Rack und Billie Mind, der Einsatz von Daguerreotypien oder Super 8 sowie die grummelnde Tonebene verleihen dem Film eine spielerische Tiefe. Verspielt ist das Werk dennoch nicht, sein Grundton ist weder hell noch düster, sondern vor allem poetisch – und vergänglich wie ein Traum.

In die Sonne schauen ist sprachlich und thematisch tief in der Altmark verwurzelt und wirkt doch universell. Sein Siegeszug durch Kinos, Festivals und internationale Filmpreise ist nicht nur ein Erfolg für ein genreübergreifendes und kraftvolles Kino und der Beleg dafür, dass es Bedarf an ungewöhnlichen Erzählweisen gibt. Sondern ein Beweis für die Globalität von Gefühlen. Genau wie die Erinnerungen, die sie begleiten, sind sie flüchtig, aber elementar. Es ist wunderbar, dass dieser Film sie einfangen konnte.
In die Sonne schauen
Regie: Mascha Schilinski
Drehbuch: Mascha Schilinski & Louise Peter.
Besetzung: Hanna Heckt, Lena Urzendowsky, Laeni Geiseler, Lea Drinda, Luise Heyer, Susanne Wuest, Zoë Baier
Länge: 149 Minuten
Produktion: Studio Zentral in Koproduktion mit ZDF/ Das kleine Fernsehspiel