Sprechstunde – Die Sprachkolumne  Die Lösung der Gender-Debatte zur Sprache bringen

Illustration: Ein Bildschirm, der gleichzeitig ein geöffneter Mund ist, zwei Sprechblasen mit Stern, Doppelpunkt, Trennstrich und Hashtag-Zeichen
Internetsprache im besten Fall: Erweiterung der Perspektive © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Digitale Werkzeuge sind nur dann hilfreich, wenn wir auch lernen, digital zu denken. Dirk von Gehlen beschreibt in seinem letzten Kolumnenbeitrag, wie wir uns in diesem Zusammenhang an zwei Hochspringern ein Beispiel nehmen können.

Essa Mutaz Barshim und Gianmarco Tamberi sind Konkurrenten und gute Freunde. Falls Ihnen dies zu widersprüchlich klingt, rate ich Ihnen von der weiteren Lektüre dieser finalen Folge der Internetsprache-Sprechstunde ab. Denn in den folgenden Zeilen soll es um die Zukunft der Sprache nicht nur im Netz gehen – und um sich damit zu befassen, ist eine Fähigkeit nötig, bei der das Aushalten der Gleichzeitigkeit von Konkurrenz und Freundschaft absolutes Anfänger:innen-Niveau ist. Der Umgang mit der Zukunft verlangt Ambiguitätstoleranz – also das Aushalten von Mehrdeutigkeiten. Das kann man üben.

Mehrdeutigkeit aushalten

Alle Bereiche des schon immer unbekannten Feldes, das vermeintlich vertrauensvoll Zukunft genannt wird, benötigen Ambiguitätstoleranz. Im Umgang mit der Sprache der Zukunft wird die Mehrdeutigkeit allerdings besonders deutlich – und verlangt uns eine mentale Leistung ab, die Essa Mutaz Barshim und Gianmarco Tamberi beispielhaft und historisch einzigartig erbracht haben.

Bevor wir aber auf ihr Niveau springen, möchte ich die Latte zunächst auf die Höhe legen, die wir gerade zu bewältigen haben: Auch durch die in dieser Kolumne wiederholt angesprochene Demokratisierung der Publikationsmittel ist ein emanzipatorischer Wunsch offenkundig geworden, der aus aufgeklärter Perspektive zu unterstützen ist: Stimmen, die früher kaum wahrgenommen wurden, verlangen nach Gehör und Aufmerksamkeit. Mitgemeint zu sein, war schon immer unzureichend. Nun aber gibt es die Möglichkeit, das zur Sprache zu bringen. (Wer sich für die Herausforderungen diskriminierungsfreier Sprache interessiert, sollte sich zum Beispiel mit non-binären Personalpronomen befassen.)

Um zu ermessen, wie privilegiert Sie persönlich auf das Mitmeinen und die Sprache blicken, hilft ein Zitat aus der Radiotheorie von Bertolt Brecht. 1932 stellt der Dramatiker darin mit Blick auf den Rundfunk fest, was heutzutage gerne bezogen auf das Internet und die sozialen Medien wiederholt wird: „Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen.“

Neue Möglichkeiten für die Ungehörten

Wenn Sie bei diesem Satz zustimmend nicken, haben Sie von den neuen Möglichkeiten des Sagens, wie Brecht es nennt, nicht besonders profitiert. Anders formuliert: Sie waren offenbar schon vor der Existenz des Internets so privilegiert, dass Sie nun übersehen, welch emanzipatorische Kraft in den Möglichkeiten des Netzes für all diejenigen liegt, die bisher nicht gehört wurden: Black Lives Matter, die Hashtag-Aufschrei- und Metoo-Bewegung haben in jedem Fall mehr als „nichts zu sagen”. Sie sind sogar durch die neuen Möglichkeiten des Publizierens beflügelt worden!

Dadurch erwachsen neue gesellschaftliche Herausforderungen. Sie drücken sich zum Beispiel in dem Wunsch aus, möglichst diskriminierungsfrei und möglichst wenig mitmeinend zu sprechen. Es gibt dafür zahlreiche Ansätze, die oft sehr polarisierend als „Gender-Debatte“ beschrieben werden. Sie laufen jeweils auf zwei Fragen hinaus: Nutzen Sie einen Genderstern? Machen Sie beim Sprechen eine kurze Pause hinter dem Wort Anfänger und ergänzen dann -innen? Denn so können Sie ausdrücken, dass Sie mehr als das generische Maskulinum kennen und nutzen. Gerade die erwähnte Sprechpause, die in der Phonetik „glottaler Plosiv“ genannt wird, ist eine im Deutschen in anderen Kontexten häufig genutzte Kulturleistung, die etwa hilft, ein Spiegel-Ei nicht Spiegellei auszusprechen. Seit sie allerdings als „Gender-Pause“ medial verhandelt wird, gilt sie vielen wie der Genderstern oder der Doppelpunkt, den wir für Leser:innen hier nutzen, als Atempause vor einem Streit.

Leser:innen haben die Wahl

Jetzt kommt die gute Nachricht: Dieser Streit ist beendet. Denn die Internetsprache wird das Problem auf eine Weise lösen, wie das Internet so viele Herausforderungen bewältigt: nutzer:innen-zentriert! Es wird nicht mehr lange dauern, bis Webseiten die Fragen des Genderns nicht mehr auf der publizierenden Seite lösen, sondern ihren Leser:innen die Möglichkeit bieten, selbst zu wählen, wie sie den Text lesen möchte (hier ein Beispiel für diesen Ansatz).

Wer häufiger im Netz Texte liest, kennt diese Option bereits von automatischen Übersetzungs-Angeboten, die auch fremdsprachige Websites zugänglich machen. Die technischen Möglichkeiten werden in absehbarer Zeit so weit sein, dass sich dies auch auf lesbarem Sprachniveau auf weitere Textvarianten übertragen lässt. Sie wählen vorab, ob Sie sich von einem Genderstern gestört fühlen und können fortan Texte lesen, die darauf verzichten. Wer hingegen das generische Femininum bevorzugt, kann dies künftig ebenso auswählen wie Freund:innen des Doppelpunkts ihre Präferenzen einstellen.

So weit, so scheinbar gut. Denn diese Wahl-Variante ist in Wahrheit nur eine Lösung an der Oberfläche. Der Streit wird weggefiltert, und dahinter zeigt sich ein tiefergehendes Problem, bei dessen Lösung ich auf die Fähigkeiten von Essa Mutaz Barshim und Gianmarco Tamberi zurückgreifen möchte.

Das Problem kann man als „Das Ende des Durchschnitts" beschreiben: Sprache wird nicht mehr für jede und jeden gleich sein, sondern verändert sich je nach gewählter Perspektive. Das verändert unseren Blick auf Sprache – und ist eine konsequente Folge dessen, was wir in vielen gesellschaftlichen Feldern als sogenannte digitale Transformation beobachten konnten: Nutzer:innen-zentrierung heißt auch, dass es die eine gemeinsame Bühne immer seltener gibt. Wir sprechen alle Deutsch – aber in unterschiedlichen Varianten.

Das wirkt problematisch, ist aber zunächst mal wie die Zukunft: unbekannt. Wir lernen gerade erst, mit diesem Wandel von der Massenkultur zur massenhaften Nische umzugehen. Er fordert uns auf neue Weise heraus und legt die Latte für unser Denken immer höher. Eine Herausforderung, vor der auch Essa Mutaz Barshim und Gianmarco Tamberi bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio standen.

Die Latte höher legen

Wenn ich die beiden Hochspringer, die sich im Finale sieben Versuche lang duellierten, hier als Beispiel nehme, dann nicht wegen ihrer sportlichen Leistung. Barshim und Tamberi gelang nach diesen sieben Höhen, die sie jeweils im ersten Versuch übersprangen, etwas, was wir auch im Umgang mit der Sprache der Zukunft benötigen: Sie fanden eine hybride Lösung, eine Option, die es vorher nicht gab, die aber niemals ausgeschlossen war: Sie gewannen beide olympisches Gold.

Nachdem beide Athleten die Höhe von 2,39m nicht meistern konnten, fragte der Schiedsrichter nach der nächsten Höhe, kam Essa Mutaz Barshim die Idee: „Can we have two golds?“ Seine Frage nach einer geteilten und deshalb doppelten Goldmedaille erhielt eine positive Antwort, weshalb Gianmarco Tamberi zusammenfassend aufforderte: „Let’s make history.“ Und die Entscheidung der beiden war in der Tat historisch: Sie schafften erstmals in der Geschichte der Olympischen Spiele eine verdoppelte Goldmedaille. Weil sie in der Lage waren, hybrid zu denken – also über die Grenzen des Üblichen hinaus, was je nach Beharrungskraft gerne als Tradition, aber mindestens als gegeben betrachtet wird.

Im besten Fall gelingt Internetsprache genau das. Sie schaffte eine Erweiterung der Perspektive und zeigt uns in der Anwendung neue Möglichkeiten. Denn Sprache ist in Wahrheit gar kein Substantiv. Sprache ist ein Verb, sie lebt von der Nutzung, gerade im Netz.

Probieren Sie es aus! Ich wette, Sie können höher springen, als Sie glauben ;-)
 

Sprechstunde – Die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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