Tonabnehmer  Wo zur Hölle liegt Kassel?

Milky Chance bei einem Fotoshooting in einer Straße in Paris
Unscheinbare Weltstars: Milky Chance sind international erfolgreich, können aber dennoch unerkannt auf die Straße gehen picture alliance/Rachel Boßmeyer

Sie spielten ihren Hit bei Jimmy Kimmel und erreichten allein in den USA fünffach Platin. Milky Chance und ihr Stolen Dance sind einer der größten deutschen Musikexporte – doch kaum jemand weiß davon.
 

Wunderbar klarer Himmel über Anchorage, Alaska. Keine Wolke, alles blau, nicht lange her, wir schreiben den Sommer 2022. Zwei Jungs aus Nordhessen – nicht nur auf den ersten Blick unauffällig - betreten eine riesige Festival-Bühne und das Publikum rastet kollektiv aus. Die Band kann damit umgehen, spielt sie doch auch sonst Headliner-Shows in Australien, Kanada, Neuseeland, Mexiko, Europa oder den USA. Doch ob man die beiden Musiker erkennen würde, stünde man hinter ihnen an der Kasse im Supermarkt? Vermutlich nicht. Milky Chance sind Weltstars und doch nicht prominent. Die globale Karriere von Clemens Rehbein und Philipp Dausch fußt dabei vor allem auf einem einzigen Stück: Stolen Dance.

Spulen wir ein bisschen zurück zum Beginn der 2010er-Jahre. Zwei haarige, schluffige Teenager begegnen sich an einer Schule in Nordhessen. Abhängen, zusammen Dr. House schauen, irgendwann gemeinsam mit Freunden Europa erkunden im VW-Bus. Knapp bei Kasse? Klar. Straßenmusik hilft ihnen, die Trips zu verlängern. Vormittags spielen sie einfach so lange, bis genug Geld fürs Frühstück zusammen ist - mitunter geht das sehr schnell. Musik ist überhaupt ein wichtiges Thema. Für ihre eigenen Songs mischen sie Gitarren-Folk mit staubtrockenen Beats. Den Begriff „Indietronic" gibt es schon seit den Neunzigern, doch erst zwanzig Jahre später entfaltet sich das Genre zu voller Blüte. Dass Milky Chance daran einen nicht unmaßgeblichen Anteil haben werden, ahnen sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Viel mehr bilden sie erstmal nur die Kulisse einer Band: Es gibt keinen Proberaum und für die Aufnahmen nutzen sie Freeware-Programme aus dem Internet. Hier lässt sich ein Paradigmenwechsel der Popwelt jener Zeit nachzeichnen: Was mit der Musik-Plattform MySpace seinen Anfang nahm, ist mittlerweile mehr als eine Verheißung: Musiker*innen können mit Hilfe des Internets selbst Stücke produzieren und diese anschließend direkt zur Verfügung stellen. Die Songs der Band, die noch gar keine ist, treffen einen Nerv und verbreiten sich rasant im Netz, allen voran Stolen Dance. Nur die Musik zählt, es gibt bislang kein Konzept, keine Plattenfirma, keine Live-Auftritte. Dennoch fragt die Initiative Viva Con Aqua an, ob die Band bei einem Poetry Slam in München die Pausen mit Musik füllen wolle? Clemens und Philipp werden nervös, sagen aber zu. An den Namen des ersten Auftrittsortes können sie sich noch heute erinnern, weil er so treffend den damaligen Status ihres Acts beschreibt: Provisorium.

And I want you
We can bring it on the floor
You've never danced like this before

Milky Chance: Stolen Dance


Auch Musiklabels haben sich in dieser Zeit umgestellt: Plattenverträge für Internet-Phänomene? Warum nicht? Der Erfolg der britischen Band Arctic Monkeys, die über MySpace berühmt wurden, gibt die Richtung vor. Stolen Dance erscheint zunächst lediglich als Download-Single. Doch das Stück mit dem Früh-Hipster-Boogie wird immer mehr zu einer Lawine und garantiert damit auch die Entstehung des Debüt-Albums Sadneccessary. Das schlichte YouTube-Video zählt heute fast eine Milliarde Aufrufe. Von solchen Zahlen können nicht nur die allermeisten deutschen Acts bloß träumen. Dabei wissen bis heute viele Fans des Duos gar nicht, dass Milky Chance eine deutsche Band sind. Wo zur Hölle liegt Kassel? Doch vielleicht wird Stolen Dance auch gerade deshalb zum Welthit, weil das Lied so universell klingt. Es beschreibt eine Generation, einen Sound, ein Lebensgefühl und ist im besten Sinne ein Beweis dafür, wie grenzenlos Pop sein kann. Die Bedeutung des Stücks lässt sich daran ablesen, dass seine Schöpfer auch elf Jahre nach dem Erscheinen weiter international touren. Aus dem Jugendzimmer-Projekt zweier Schulkumpels ist einer der am meisten verbreiteten deutschen Acts überhaupt geworden. Haben sie damit Kassel weltweit auf die Karte gebracht? Nein. Aber darum ging es den beiden ja auch nie.