Sprechstunde – die Sprachkolumne  Wie man eine Nationalhymne übersetzt

Illustration: Zwei Personen mit Sprechblasen, in denen sich Noten befinden – die Noten je Person in unterschiedlichen Farben
Eine Hymne übersetzen © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Keine alltägliche Aufgabe: Ulrike Almut Sandig hat die ukrainische Nationalhymne im Tandem mit Claudia Dathe ins Deutsche übertragen – in literarischer Qualität und vor allem singbar. Ihr größter Wunsch: Die Aufführung der Hymne am barrierefreien Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine – mit Freikarten für alle.

In der letzten Folge dieser Weltreise haben wir einen Zwischenstopp bei meinem Kollegen Grigory Semenchuk im westukrainischen Lwiw eingelegt. Wir bleiben ganz in der Nähe und nutzen die Zeitmaschine Poesie für einen Sprung in die Vergangenheit.

Die ukrainische Hymne

Im Jahre 1862, als die Ukraine noch nicht viel mehr als eine Idee in den Köpfen einiger Intellektueller war, schrieb der Sohn eines verarmten Adligen, groß geworden auf einem Bauernhof bei Kyiv, ein patriotisches Gedicht. Sein Name war Pawlo Platonowytsch Tschubynskyj. Das Gedicht fand rasend schnell Verbreitung und brachte ihm „wegen seines schädlichen Einflusses auf die Gedanken des Volkes“ sieben Jahre Verbannung im russischen Gouvernement Archangelsk ein.
 
Pavlo Tschubynskyj

Pavlo Tschubynskyj | gemeinfrei (via Wikipedia)

Es war aber so wenig aufzuhalten wie die ukrainische Idee eines selbstbestimmten Staates. Nur drei Jahre später wurde eine Vertonung des Textes durch den katholischen Priester Mychajlo Werbyzkyj in Przemyśl uraufgeführt. Heute kennen wir das Stück als ukrainische Nationalhymne.

We look like Ukrainians

Die Kleinstadt Przemyśl im polnischen Karpatenvorland ist im Moment ein wichtiger Grenzort. Weil der Passagierflugverkehr seit der russischen Großinvasion ausgesetzt ist, fahren Reisende aus der Ukraine bis Przemysl, um dort nach der Gepäck- und Passkontrolle in die polnischen Züge umzusteigen. Die ukrainischen Züge werden Waggon für Waggon geöffnet; das Prozedere dauert nervenaufreibende Stunden. Als ich im vergangenen Herbst über Przemyśl in die EU heimkehrte, sagte eine Bekannte, die zufällig in der Schlage hinter mir stand und mein müdes Gesicht erkannt hatte: We look like Ukrainians.
 
Ulrike Almut Sandig in Przemyśl

Ulrike Almut Sandig in Przemyśl | Foto: privat

Silbe für Silbe

Existenzielle Bedrohung zieht sich durch die Geschichte der Ukraine, die von einem Vernichtungsversuch in den nächsten zu stürzen scheint. Lieben Ukrainer*innen ihre Hymne deshalb so? Mit meinem gespaltenen Verhältnis zum Deutschsein jedenfalls bewundere ich ihr Innehalten, wann auch immer die Hymne gespielt wird.

Anfang April 2022, Russland überzog die Ukraine mit einem Feuerregen, fragte mich plötzlich meine Kollegin Claudia Dathe, ob ich mir vorstellen könne, die ukrainische Nationalhymne ins Deutsche zu übertragen. Dathe ist eine gefragte Übersetzerin von Gegenwartsliteratur aus dem Russischen und Ukrainischen. Die Leiterin des Checkpoint-Charlie-Museums Berlin Alexandra Hildebrandt, selbst ukrainischstämmig, hatte sie darauf hingewiesen, dass es zwar verschiedene deutsche Übersetzungen der Hymne gebe, aber keine von literarischer Qualität. Erst recht keine, die man singen könne.

Wir machten uns an die Arbeit. Noch nie hatte ich so lange an der deutschen Fassung eines einzelnen Gedichtes gearbeitet. Und noch nie mit so großer Nervosität. Damit die Hymne singbar wäre, musste nicht nur die Anzahl der Silben stimmen, sondern auch der Wechsel von betonten und unbetonten Silben. Claudia Dathe übersetzte mir das ukrainische Original Wort für Wort ins Deutsche, bot Alternativen und kommentierte Tonfall oder sprachliche Besonderheiten. Und nachdem ich jede einzelne Silbe mit Original und Notation verglichen hatte, setzte ich das Puzzle zusammen.

ukrainisches Original:
Душу й тіло ми положим за нашу свободу,
І покажем, що ми, браття, козацького роду.

Interlinearfassung:
Seele und Leib geben wir/legen wir für unsere Freiheit
Und zeigen, dass wir, Brüder, zum Kosakengeschlecht gehören/aus dem Kosakengeschlecht kommen.

deutsche Nachdichtung:
Leib und Seele heben sich in uns’rer Freiheit Wind,
wir beweisen, dass wir wahre Kinder der Kosaken sind.

Claudia rief mich zurück, wenn ich mich inhaltlich zu weit vom Original entfernt hatte, ich schrieb um und schickte es ihr wieder. Es war wie feine Stickarbeit. Nach einem Monat waren alle drei Strophen nachgedichtet – und singbar. Die größte Freiheit hatten wir uns für den Refrain genommen. Werden Leib und Seele im Original für die Freiheit geopfert, heben sie sich in meiner deutschen Nachdichtung im Aufwind der Freiheit.
 
Ukrainische Hymne

Ukrainische Hymne | deutsch: C. Dathe, U. A. Sandig

und wie sie klingt!

Uraufgeführt wurde die Nationalhymne in einer Veranstaltung des Literaturhaus Bonn am 20. November 2022 von Mitgliedern des Bonner Opernchors: Vardeni Davidian (Sopran), Christina Kallergis (Sopran), Jeannette Katzer (Sopran) und Katrin Stösel (Sopran) sowie Simone Degner (Alt), begleitet von Joonhee Lee am Klavier. Ich finde, sie klingt hoffnungsvoll und ganz ukrainisch.
 

Zukunftsmusik

In meiner Vorstellung wird die Hymne irgendwann wieder in Przemyśl aufgeführt. Es gibt Freikarten für alle Reisenden, das Zugpersonal, für alle polnischen und ukrainischen Grenzbeamt*innen und ihre Familien, und danach wird der nagelneue, barrierefreie Grenzübergang Przemyśl eingeweiht. Finden sich bis dahin bei uns Gelegenheiten, die Hymne mal auf Deutsch zu singen? Als Zeichen und für guten Wind.
 

Sprechstunde – Die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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