Sprechstunde – die Sprachkolumne  Für immer Kind

Illustration: Person mit einem Schild, das die Aufschrift „Ok Boomer“ trägt
Boomer klingt viel fresher und jünger als Silver Ager, Best Ager, Golden Ager oder gar Seniorin Illustration: Tobias Schrank; © Goethe-Institut e. V.

Warum essen erwachsene Menschen gerade so gerne Grießbrei? Warum hat kaum jemand „Eltern“, stattdessen „Mama“ und „Papa“? Unsere neue Kolumnistin, die Musikerin, Autorin und Journalistin Christiane Rösinger, spürt diesem Infantilisierungs-Trend nach. Wohin wird er führen?

Im neuen Jahr werden wir weniger von den „Boomern“ hören, die hatten 2024 Hochkonjunktur. Denn 2024 war Boomer-Jubiläum, es wurde der „Abschied von den Boomern“ zelebriert, weil viele der Boomer-Jahrgänge in Rente gingen. Andere Babyboomer feierten 2024 ihren 60. Geburtstag.

Jung geblieben

Die Zwei Wort-Phrase „Ok Boomer!“ hatte da ihre besten Zeiten schon hinter sich. Sie hatte sich 2019 aus einem Meme entwickelt und wurde durch eine neuseeländische Parlamentsabgeordnete zum geflügelten Wort. Dem älteren Abgeordneten, der ihre Rede zum Klimawandel unterbrach, schleuderte sie ein lässiges „Ok Boomer!“ entgegen. Heute artikuliert man eher wieder ein genervtes „Nee, ist klar!“ als Ausdruck der Frustration, wenn jede weitere Erklärung bei einem halsstarrigen Gegenüber sinnlos scheint.

Trotz des Boomerbashings im vergangenen Jahr muss ich sagen: Ich bin gerne Boomerin. Das Wort hört sich für mich schön an, nach dem Erfolgsfilm La Boum – die Fete oder der Serie Boomer der Streuner. „Ich bin Boomerin!“ – dieses Statement hat so was Unvernünftiges, Jugendliches. Klingt viel fresher und jünger als Silver Ager, Best Ager, Golden Ager oder gar Seniorin. Und jünger wollen ja alle klingen, nicht nur die Boomerinnen.

Das Leben – ein Kindergeburtstag

Keiner will hingegen älter werden, auch die jungen Erwachsenen nicht. Deshalb können wir in vielen Lebensbereichen eine Rückbesinnung auf die Kindheit beobachten. Schon um 2010 machte sich dieser Kindheitstrend gastronomisch bemerkbar, denn in den Hipster-Cafés wurden vermehrt bunte, weiche Kuchen angeboten – das Leben sollte wohl ein einziger Kindergeburtstag sein. Schon bald bildete sich zur Beschreibung des Phänomens die schöne Wortschöpfung „cupcakification“ heraus. Dann gab es überall Smoothies und Suppen, außerdem erschienen Kindergerichte wie Grießbrei, Milchreis und Wackelpudding auf den Speisekarten.

Nicht ohne Mama und Papa

Und nun hat sich die Sehnsucht nach ewiger Kindheit auch sprachlich manifestiert. Erwachsene Menschen sprechen und schreiben immer mehr wie Fünfjährige. Das Wort „Eltern“ ist tabu. „Mein Papa und meine Mama“ heißt es nicht nur im privaten Kreis, sondern auch in formelleren Zusammenhängen, gegenüber völlig Fremden. In jedem Zusammenhang müssen Mama und Papa erwähnt werden: „Ach ja, Italien, da haben meine Mama und mein Papa ein Ferienhaus. Meine Mama ist ja jetzt auch schon fast 80. Mein Schwiegerpapa hat gesagt, …“

Warum ist das so? Geht es darum, mithilfe kindlicher Sprache Nähe und Intimität zum Gesprächspartner herzustellen? Will man dadurch auch Unbekannten gegenüber die emotionale Nähe zu den Eltern heraufbeschwören? Oder ist es die Sehnsucht, in einer immer übersichtlicheren Welt die eigene Verletzlichkeit auszustellen? Denn wer „meine Mama und mein Papa“ sagt, ist noch ein Kind und kann nicht für das eigene Tun verantwortlich gemacht werden.

Mitmachen dürfen

Die infantile Sprache geht einher mit einem neuen Demutsgebaren und bedient sich dazu auch des Hilfsverbs „dürfen“. Gestandene Musiker und Musikerinnen teilen auf Instagram mit, sie „dürfen ein Konzert spielen“, sie „dürfen auf der Bühne stehen“, als haben es ihnen „Mama" und „Papa“ erlaubt. Damit soll wohl der Ausdruck vollkommener Selbstgenügsamkeit vermittelt werden: „Ich bin so bescheiden und achtsam, dass ich sogar meinen Broterwerb – Musik machen – als eine Gnade, ein Geschenk sehe!“ Auch andere Berufe aus der Kulturszene sind von diesem Trend betroffen: Autoren freuen sich, ein Vorwort schreiben zu dürfen, auf einem Podium sitzen zu dürfen, Moderatoren fassen nicht ihr Glück, moderieren zu dürfen!

Werden bald Ärztinnen glücklich sein, uns untersuchen zu dürfen, Beamte des Ordnungsamtes entzückt sein, Strafzettel ausstellen zu dürfen? Wir dürfen gespannt sein.

Sprechstunde – die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.