Sprechstunde – die Sprachkolumne  Was bleibt vom Dialekt?

Im Hintergrund sieht man die Fahnen Bayerns im Wind wehen. Im Vordergrund ist ein Bild mit der Autorin Bettina Wilpert. Sie ist weiß, trägt kurze braune Haare, eine dicke Jacke über einem Shirt und Brille. Bild (Detail): koi88 von Getty Images via Canva.com | Nane Diehl

Bettina Wilpert ist in Bayern aufgewachsen. Aber es zog sie schon bald nach Berlin und Leipzig. Heimweh nach Bayern hat sie kaum. Manche einzigartigen bairischen Wörter und Redewendungen begleiten sie aber immer noch durch den Alltag.

In der oberbayerischen Provinz, wo ich aufgewachsen bin, gibt es teilweise in jedem Dorf eine andere Bezeichnung der Uhrzeit. So sagten wir in Erlbach viertel nach acht, in Perach dagegen hieß die gleiche Uhrzeit viertel neun, in Reischach benannte man sie wieder anders.

Wie spät ist es?

Nach meinem Abitur zog ich nach Berlin. Dort wurde ich meistens verständnislos angeschaut, wenn ich von dreiviertel neun, also 08:45 Uhr sprach. Deshalb gewöhnte ich mir an, diese Uhrzeit als viertel vor neun zu bezeichnen. Meinen Master machte ich dann in Leipzig. Da konnte ich endlich wieder dreiviertel neun sagen. Leipziger*innen und Sachsen verstanden mich, Zugezogene blickten verwirrt drein.

Nach meinem Wegzug aus der katholischen Provinz war ich stolz darauf, dass mir kaum jemand meine bayerische Herkunft anhörte. Allerdings fällt es mir bis heute schwer, das Wort „Brötchen“ über die Lippen zu bringen. Dieses kleine Gebäck heißt für mich weiterhin auf süddeutsche Art „Semmel“. Eine helle Semmel ist eines der Lieblingsessen meiner Kinder, ansonsten sind sie sehr „hoaklig“. Heißt: Sie sind pingelig in Bezug auf Essen. Im Hochdeutschen kenne ich kein entsprechendes Wort dafür.

Gelegentlich besuchen wir meine Mutter in Bayern. Dann verfalle ich schnell wieder in den Dialekt. Für meine ältere Tochter klingt das sehr ungewohnt. Einmal sagte sie zu mir, als ich auch mit ihr Bairisch sprach: „Mama, rede bitte kein Englisch mit mir.“

Gibt’s nur auf bairisch

Bayern vermisse ich nicht, doch ich vermisse das Bairische – wegen ganz bestimmter Begriffe. Eines meiner liebsten bairischen Wörter ist „tramhappad“, was so viel bedeutet wie schlaftrunken, nach dem Aufstehen noch dem Traum – dem „Tram“ – verhaftet. Schlaftrunken zu sein, ist ein vorübergehender Zustand. Eine Person kann aber „tramhappad“ durchs ganze Leben stolpern.

Übersetzt man manche bairischen Ausdrücke wortwörtlich, entpuppen sie sich als „falsche Freunde“. Die Wörter ähneln sich stark, haben aber in ihrer jeweiligen Sprache eine unterschiedliche Bedeutung. So gingen wir als Teenager am Freitagabend „furt“. Aber wir gingen nicht etwa fort und verließen unsere Familien, sondern wir gingen aus, um zu feiern – furtgeh eben.

Als meine Tochter zwei Jahre alt wurde, hörte ich von meinen Eltern unabhängig voneinander den Spruch: „De Zwoajährigen deaf ma nia ausgeloßn.“ Wörtlich übersetzt hieße es, dass man die Zweijährigen nicht ausgehen lassen darf. Stimmt schon, Kleinkinder sollten wirklich nicht auf Partys gehen. Es ist jedoch etwas anderes gemeint: Ausgehen bedeutet in diesem Fall so etwas wie fehlen: Es sollte immer genügend Zweijährige geben. Meine Eltern meinten damit, dass ein zweijähriges Kind in einem sehr schönen Alter ist: Die Kinder sind keine Babys mehr, können laufen und oft schon sprechen, sind allerdings noch nicht vollständig in der Autonomiephase angekommen und die Wutanfälle halten sich in Grenzen.

Das Bairische hat sogar seinen eigenen Konjunktiv. „I warad jetzt do“ sagt man beispielsweise, wenn man pünktlich zu einer Verabredung erschienen ist, die andere Person aber noch auf sich warten lässt. Dann ruft man sie an und verkündet: „Ich wäre jetzt da.“ Den bairischen Konjunktiv berühmt gemacht hat der österreichische Kabarettist Josef Hader in seinem Programm Hader muss weg. Da sagt er zu seinem Tonmann: „Sog ned i warad jetz da, wannst eh da bist.“

Lieber Hochdeutsch

Bei anderen Ausdrücken bin ich froh, dass sie im Rest Deutschlands nicht verwendet werden. Interessanterweise sind es häufig bairische Grußformeln: Statt „Guten Tag“ zu sagen, grüßt man in Bayern Gott – mit der Floskel „Grüß Gott“. Ich jedenfalls habe gar keine Lust, ihn zu grüßen.

Als Schülerin musste ich jeden Morgen mit dem Schulbus in die Kreisstadt fahren. Meine männlichen Mitschüler grüßten den Busfahrer Maddin (Martin) meist entweder mit „Habedehr“ oder „Servus“. Beides hörte sich schon damals seltsam veraltet an. Dem sexistischen Busfahrer wollte ich nicht die Ehre erweisen. Und „Servus“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „Sklave“, als Grußformel dann „ich diene dir“. Bei derlei Sprachwendungen muss man sich nicht darüber wundern, dass in Bayern nach wie vor das Konservative sehr geschätzt wird.

Das war meine letzte Kolumne. In diesem Sinne: I warad jetzt weg.


Sprechstunde – die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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