Der Entzug des Wahlrechts für russische und belarusische Bürger*innen bei Kommunalwahlen durch das estnische Parlament wirft eine Frage auf: Dient es wirklich der Demokratie, wenn der Staat ein vermeintliches „öffentliches Interesse“ durch die Aufhebung dieses Privilegs schützt? Welche konkrete Bedrohung für die nationale Sicherheit vom Wahlrecht für Drittstaatsangehörige ausgeht, bleibt unklar – selbst für die Urheber*innen der estnischen Verfassung, die an dessen Einführung beteiligt waren.
Ich finde es seltsam, dass Estland beschlossen hat, dieses Thema gerade jetzt aufzugreifen – in einer Zeit, in der eine Krise auf die andere folgt, die Steuern steigen, die Wirtschaft stetig schrumpft und die Spannungen in der Gesellschaft größer sind denn je. Haben wir nicht dringendere Probleme zu lösen? Eines ist klar: Der Krieg gegen die Ukraine hat unsere Beziehungen zu unserem Nachbarn neu geprägt und Salz in eine Wunde gestreut, die gerade erst begonnen hatte, ein wenig zu heilen. Die Dinge werden nicht mehr so sein, wie sie waren – zumindest nicht in nächster Zeit.Es fühlt sich an, als hätten wir bereits begonnen, uns an diese neue Realität anzupassen. Die öffentlichen und medialen Diskussionen über die Bedeutung der Bildungsreform [gemeint ist hier vor allem der laufende Übergang zum Unterricht in ausschließlich estnischer Sprache, Anm. d. Red.] sind allmählich verstummt, und nach der Entfernung von Denkmälern [insbesondere nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, Anm. d. Red.] aus der Sowjetzeit sind kaum Spuren zurückgeblieben. Gesetze werden nicht mehr ins Russische übersetzt, und das Fehlen der russischen Sprache auf den neuen Webseiten der Regierung wird inzwischen als normal angesehen. Russischsprachige Zeitungsredaktionen in der Hauptstadt werden geschlossen, und die Führerscheinprüfung findet jetzt ausschließlich in der Amtssprache Estnisch statt. Selbst auf Schildern und Speisekarten verschwindet das Russische allmählich – und das nicht mehr nur unter den wachsamen Augen von Keelemalev (einer Gruppe von Aktivist*innen, die sich für die Dominanz des Estnischen im öffentlichen Raum einsetzen). Seien wir ehrlich: Unser Alltag wird sich nicht ändern, wenn in Einkaufszentren plötzlich keine Werbung mehr auf Russisch ausgestrahlt wird. Die Leute haben auch nicht aufgehört, zu McDonald’s zu gehen, nachdem die russische Version der Speisekarte entfernt wurde. Inzwischen hat man sich stillschweigend damit abgefunden, dass es ein Muss ist, Estnisch zu lernen. Aber ist das wirklich der Schlüssel zur Lösung all unserer Probleme?
Historisch gesehen war Estland stets die Heimat russischsprachiger Menschen sowohl mit als auch ohne estnischen Pass. Nach Angaben von Statistics Estonia für das Jahr 2024 leben derzeit rund 80.000 russische und belarusische Staatsangehörige im Land. Russischsprechende Menschen – oder russische Est*innen – sind seit langem ein Teil unserer Gesellschaft: „unser Volk“, „unsere Landsleute“. Was hat sich nun geändert? Warum sind die Menschen, mit denen wir so lange zusammengelebt haben, in den Augen des Staates plötzlich von „uns“ zu „denen“ geworden? Und was ist mit der älteren Generation, denjenigen, die vor 50 oder gar 80 Jahren nach Estland kamen? Sie lebten hier friedlich, unterstützten unsere Demokratie, zahlten pflichtbewusst ihre Steuern und führten ein ruhiges, harmonisches Leben. Sind auch sie nicht mehr Teil von „uns“?
Die Staatsbürgerschaft ist kein verlässlicher Indikator. Ein estnischer Bürger kann gegen alle moralischen Grundsätze verstoßen und, angeblich aus Unwissenheit, weiterhin die Wirtschaft eines Aggressorstaates unterstützen. Gleichzeitig kann ein russischer Staatsbürger, der die Handlungen seines ethnischen Heimatlandes offen verurteilt hat, zuvor nach Estland gezogen sein und sich nun für die Stärkung der Demokratie in Estland einsetzen, indem er Licht auf die Schrecken wirft, die sich tagtäglich in der Ukraine abspielen. Der eine ist der Ehemann einer hochrangigen estnischen Politikerin, der andere ist der Chefredakteur von Rus Delfi. Ist es also wirklich die Staatsbürgerschaft, die die politischen Ansichten eines Menschen bestimmt?
Ich glaube, dass die Entscheidung, ein in der Verfassung verankertes Recht aufzuheben, auf einer emotionalen Grundlage getroffen wurde. Diese Entscheidung erfordert aber nicht nur eine rechtliche Überprüfung der einschlägigen Änderungen, sondern auch eine gründliche Abschätzung der Folgen, die sie nach sich zieht. Wir müssen uns fragen: Schützen wir auf diese Weise wirklich nationale Interessen, oder riskieren wir eine weitere Spaltung der Gesellschaft? In schwierigen Zeiten gewinnen Emotionen häufig die Oberhand über die Vernunft, aber jetzt brauchen wir mehr denn je ausgewogene und faire Entscheidungen, die das Vertrauen in den Staat stärken, anstatt es zu untergraben.
Aktualisierung durch die Autorin:
Am 26. März 2025 hat das estnische Parlament beschlossen, Drittstaatsangehörigen das Wahlrecht bei Kommunalwahlen zu entziehen. Die Änderung tritt bereits für die Kommunalwahlen im Herbst 2025 in Kraft. Russische und belarusische Bürger*innen werden dann nicht mehr wahlberechtigt sein. Staatenlose Einwohner*innen Estlands werden den Änderungen zufolge bei den Kommunalwahlen 2025 noch wählen dürfen, aber auch sie werden dieses Recht in Zukunft verlieren.
Die entsprechende Änderung der Verfassung der Republik Estland beraubt im Endeffekt 150.000 Menschen eines Rechts, das zuvor in dieser Verfassung verankert war.
Dieser Artikel erschien zuerst in der estnischen Zeitschrift Narvamus, einer unserer Medienpartner für PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
Februar 2025