Kunst
Gegenwärtig über die Gegenwart(skunst)

Ein Mann geht an einem bunten Kunstwerk an einer Wand vorbei.  ©Pexels, Iván Rivero

Gegenwartskunst – was ist das, wozu ist sie gut, warum ist sie so teuer und unverständlich? Braucht diese Kunst noch jemand? Über all das spricht der Urban Artist Denis Poluboyarov aus Narva.

Alina Šabarova

Für den Anfang: Erzähle ein bisschen über dich. Was machst du jetzt?

In diesem Jahr mache ich meine letzte Arbeit am Theater: Menschen und Ziffern ist eine dokumentarische Theaterproduktion, die beim Vabadus-Festival am 14. August in Narva gezeigt wird. Warum ich entschieden habe, das Theater zu verlassen? Es ist an der Zeit für ein neues Format. Theater ist im Gegensatz zu anderen Kunstformen ein kollektives Genre, dieser Prozess enthält die Arbeit einer sehr großen Anzahl von Menschen. Jetzt bin ich in der Kunst eher ein Egoist. Somit habe ich für mich entschieden, mich lieber mit eher „egoistischen“ Formaten zu beschäftigen – Malerei, Skulptur, Architektur.

Wo hast du Kunst studiert und wo später gearbeitet?

Man kann nicht lernen, ein Künstler zu werden. Das heißt, man kann, sagen wir, zum Beispiel manche technische Tricks, technische Geheimnisse, lernen. Für mich liegt heute der Sinn der Kunsthochschulen und Universitäten eher darin, dass Menschen dorthin kommen, um Kontakte zu knüpfen und ihre eigenen Vereine zu gründen. Deswegen hat mir im Großen und Ganzen keine Schule, an der ich studiert habe, etwas gegeben. Ich habe in St. Petersburg Regie studiert und dann ging ich an die Narva Hochschule. Das Studium dort war mir wichtig, weil ich meine Freunde kennengelernt habe, und das war der Wert dieser Bildungseinrichtung. Und dann habe ich an der Estnischen Akademie der Künste studiert und einen Abschluss gemacht. Dort war der Ausbildungsprozess wirklich gut, weil er auf die Praxis fokussiert war. Ich habe das Diplom zum Theater- und Filmkünstler bekommen. In Estland habe ich es geschafft, mit wunderbaren Theatern wie dem Estnischen Dramatheater und der Staatsoper zusammenzuarbeiten. Die wunderbarste Tätigkeit hatte ich in den anderthalb Jahren Projektarbeit bei Nukufilm.

Kannst du das Wort „Gegenwartskunst" definieren?

Jede Kunst ist immer gegenwärtig. Die „alte“ Kunst war auch so modern wie die heutige es ist, deswegen ist es sehr schwer zu verstehen, was die Gegenwartskunst im Sinne der Definition ist. Wir können nur über Zeitrahmen sprechen. Genauer gesagt, befinden wir uns jetzt im Zeitalter des Metamodernismus. Wir haben die Zeit des Postmodernismus glücklich durchschritten, die viel Sarkasmus, Spott und eine Art Verleugnung mitgebracht hat. Der Metamodernismus ist die Zeit der Akzeptanz jeglicher Art und Form von Kunst.

Worin besteht der Wert von gegenwärtigen Kunstwerken?

Jeder Mensch legt den Wert selbst fest. Grundsätzlich müssen wir verstehen, dass es einige gemeinsame Werte gibt, aber der Wunsch eines Menschen, etwas zu schaffen kann sich auf jede Weise ausdrücken. Es kann ein auf der Wand geschriebener Satz sein – dies ist auch eine Äußerung von Kunst und Kreativität. Und dann kommt die Einstellung des Betrachters*der Betrachterin, das heißt, wie er*sie es sieht. Banksy wäre als Künstler nie erfolgreich gewesen, wenn er kein Publikum gehabt hätte. Er kam mit seiner Provokation und fand jemanden, der sich in seine Arbeit verliebte. So ist es auch mit der Literatur. Zu sagen, dass manches Werk großartig ist, ist ein leeres Wort. Es kann für dich allein großartig sein, aber für einen anderen Menschen bedeutet es nichts. Deshalb bilden wir unsere eigenen Hausbibliotheken, sammeln Fotografien von Werken. Wer finanzielle Möglichkeiten hat, kauft die im Original. Aber wir gestalten unsere Welt mit Hilfe dieser kreativen Menschen, denn wir finden in ihren Werken das, was uns hilft, Komfort gibt oder provoziert.

Nun zum anderen Wert der Kunst. Warum werden manche Bilder so teuer verkauft, wenn andere, scheinbar nicht schlechter, billiger sind?

Tatsächlich ist das alles nicht so einfach. Manchmal scheint es, dass der Onkel nicht schlecht zeichnet. Sein Meer plätschert und der Himmel ist blau, kostet aber einen Euro. Und da ist zum Beispiel der Graffiti-Künstler Basquiat der 80er Jahre, der heute 110 Millionen Euro wert ist. Es geht darum, dass die Monetarisierung von Kunst und überhaupt die Entstehung von Kunst ein vielschichtiger Prozess ist. Zuerst müssen wir verstehen, dass die Kunst, als bestimmter sozialer Prozess, nur dort möglich ist, wo es viel Geld gibt. Die Kunst generell wurde in ihrer gesamten Existenzgeschichte nur dann geboren, gestaltet und erblühte, wenn die Möglichkeit ihrer finanziellen Unterstützung bestand. Warum haben beispielsweise Städte wie Paris, New York, London oder Moskau der Welt mehr künstlerische Entdeckungen gegeben als Narva, Iwangorod, Tallinn, Tartu? Nur aus einem Grund - die waren und sind riesige Zentren, die die Kunst finanziell versorgt haben.

Andererseits verkauft sich ein guter Künstler immer gut. Wir haben immer noch die Meinung aus der Sowjetunion, dass ein Künstler erst arm, hungrig, obdachlos sein sollte und erst danach könnte er seinen Platz unter der Sonne erobern. Tatsächlich gibt es in der Geschichte viel mehr Beispiele der reichen und erfolgreichen Künstler als über arme. Die Kreativität der Autoren verblasste meistens in der Zeit des Geldmangels. Die Periode aller Tragödien und Leiden Rembrandts ist die bescheidenste nach der Anzahl der Werke.

Wir müssen auch bedenken, dass Kunst, Musik, Kultur alles Manifestationen eines Menschen sind, die ihn einzigartig machen. Der Name eines Künstlers wird im Laufe der Jahrhunderte einzigartiger, weil das Talent eines Menschen nicht mit der Zeit abgewertet werden kann.

Wie verflechtet sich dein Beruf als Stadtkünstler mit der gegenwärtigen Kunst?

Der ist rundum mit der Gegenwartskunst verflochten, weil ich ein Künstler von heute bin. Ich arbeite mit einer Struktur, die sich jede Minute ändert. Nämlich hier in der Stadt spiegelt die Kunst die heutige Realität wider. Ich kann ein Beispiel geben: die Vogelpopulation hat in der Stadt zugenommen. Das Aussehen der Müllbehälter muss dahingehend verändert werden, dass sie einen Deckel erhalten. Vor 30 Jahren existierte so ein Problem nicht. Jetzt gibt es so viele Vögel, dass es notwendig ist, Maßnahmen umzusetzen, damit die Vögel keinen Müll in den Straßen verstreuen. Das heißt, die Anzahl der Vögel in der Stadt beeinflusst automatisch das moderne Design. Die Stadt beginnt anders auszusehen.

Darin besteht meine Arbeit. Ich stehe im Zentrum der Gestaltung des visuellen Raums, aber im Moment ist das Bedürfnis nach Praktikabilität höher als nach Ästhetik. Ich höre zu und erfülle den Auftrag eines modernen Menschen. Würde ich den Auftrag eines Bürgers aus dem 17. Jahrhundert erfüllen, stünde ich vor der Forderung, in Narva den Galgen auf den Rathausplatz zu stellen, weil es damals für die Bürger unbequem war, über die alten Brücken in die Festung zu gehen, wo alle Hinrichtungen stattfanden. Die Anordnung besagt, dass diese Maßnahme Narva dem Standard anderer europäischer Länder näherbringen und den Komfort der Bewohner*innen verbessern sollte. Genauso, wie es auch jetzt der Fall ist...

Und zum Schluss: Richte einige inspirierende Worte an die kreativen Menschen, die diesen Artikel lesen.

Es geht darum, dass es Dinge gibt, die nicht gelehrt werden können. Du kannst nicht lehren zu lieben, zu atmen, und du kannst einem Menschen nicht verbieten, ein*e Künstler*in zu sein. Diese Person wird sowieso eine Gelegenheit finden, etwas zu erschaffen oder, wie der große Anatoly Zverev, mit Zigarettenkippen und Orangenschalen zu malen. Denn Talent, echtes, wahres Talent, kann nicht verloren gehen. Es wird entdeckt.

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