Kunst
Eine Reflexion zur zeitgenössischen Kunst

Die Illustration zeigt eine Person inmitten verschiedener Objekten © Nika Nazarova

Es ist immer interessant, über das Thema Kunst nachzudenken. In diesem Interview erzählt Mikhail Komaschko welche künstlerischen Strömungen für verschiedene Epochen typisch waren und was man tun muss, um Kunst zu genießen.

Margarita Skripkina

Mikhail Komaschko, Redakteur des Narva-Studios Radio 4, Journalist und Moderator im Radio und Fernsehen, absolvierte das St. Petersburger Staatliche Institut für Film und Fernsehen. Nach seinem Diplom zum Drehbuchautor besuchte er das Aufbaustudium am Lehrstuhl für Kunstgeschichte.

Wie ist sie so, die Gegenwartskunst? Stammt sie aus der Moderne oder ist sie ein kompletter Widerspruch zu dieser Strömung?

Ob sie aus der Moderne stammt? Wenn “aus etwas stammen” meint, dass sie ihre Wurzeln daher hat, dann ja. Gegenwartskunst hat ihre Wurzeln in allen Kunstprozessen und -strömungen, die es zuvor gab. Deshalb stammt die Gegenwartskunst aus dem Klassizismus und Barock und aus der Antike und Renaissance und aus der Moderne. Ist die Gegenwartskunst modern? Nein. Wir leben im Zeitalter der Metamoderne oder Postpostmoderne, den genauen Namen werden in Zukunft Kunsthistoriker*innen und Kulturwissenschaftler*innen bestimmen. Wie ist die Gegenwartskunst? Kulturwissenschaftler*innen, Kunsthistoriker*innen (und ich schließe mich ihnen an) heben mehrere Dinge hervor, die für die Metamoderne charakteristisch sind. Eine davon ist die Oszillation. Der Begriff selbst stammt aus der Physik, wird aber in der Kunst als Gleichwertigkeit beliebiger Objekte verstanden. In der Gegenwartskunst sind alle gleich, das heißt alle Musiker*innen sind Musiker*innen, alle Künstler*innen sind Künstler*innen. Es ähnelt einem Wettbewerb, wo jede*r eine Auszeichnung, einen Pokal für die einfache Teilnahme erhält, und wo gesagt wird, was für ein guter Kerl man doch ist, ohne wirklich am Wettkampf teilgenommen zu haben.
Vorteile der Oszillation: Toleranz, Verständnis, Erweiterung der Grenzen des Sehens, Verbindung von verschiedenen Stilen und totale Akzeptanz von allem.
Nachteile der Oszillation: man kann keine Genies oder Außenseiter benennen; wegen der Toleranz verschwindet der Protest.
Als einen Vorteil betone ich, dass wenn es in der Postmoderne noch Ironie und Sarkasmus gab, sie aus der Metamoderne verschwunden sind. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Metamoderne (welcher schon in der Postmoderne begann) ist das Verschwinden der Grenzen zwischen Design und Kunst, zwischen angewandter Kunst und Kunst. Verwirrung kommt sowohl bei Künstler*innen als auch beim Publikum vor. Beim Design geht es vor allem um die Ästhetik von Funktionen und den Zweck der Kunst, die Welt zu erforschen und zu modellieren.

Welche Werke sind charakteristisch für gegenwärtige Künstler*innen?   

Ein*e moderne*r Künstler*in kann alles tun, was sie*er will. Sie kann eine Regisseurin, er ein Videofilmer, ein Maler, sie eine Bildhauerin oder sonst wer sein. Oszillation macht alles möglich. Gleichzeitig ist es stets möglich, die künstlerische Hauptströmung einer Epoche hervorzuheben. Im 19. Jahrhundert waren es Romane, die regelmäßig in kleinen Kapiteln erschienen, so wie heutzutage Fernsehserien. Im 20. Jahrhundert war es zweifellos das Kino, die am meisten produzierte und wichtigste, die aktuellste Kunst. Für die ersten zwanzig Jahre des 21. Jahrhunderts denke ich, dass dies Fernsehserien sind. In den Serien vereint sich alles: Kunstschaffende (großartige Regisseur*innen, Kameraleute, Schauspieler*innen), außerdem ist es eine synkretistische Kunst, die Malerei (Szenerie, Kostüme, Inszenierung, Komposition, Farben) und Literatur (Drehbuchschreiben, Dialogaufbau, Konzeptentwicklung) und Musik verbindet. Einerseits sind Serien echte Kunst, andererseits aber auch etwas, das massenweise für den Verkauf produziert und vom Publikum einfach so akzeptiert wird. Es handelt sich nicht um ein konzeptionelles Werk, das nur wenige Menschen sehen und schätzen werden. Gleichzeitig ist es auch kein billiges Etwas, das nur zur Belustigung des Publikums gemacht wird. Natürlich können wir sagen, dass das Hauptformat für die Jugendlichen kurze Videos sind, TikTok, Reels; aber zur Zeit sehe ich da noch nichts Neues – Musik wird verwendet, die zuvor von jemand anderem geschrieben wurde, Narrationen und Texte, die von jemand anderem verfasst wurden und schon lange existieren.

Wie sieht das Gesicht der Gegenwartskunst in Estland aus?                                                   

Ich werde aus mehreren Gründen keine Namen nennen: Ich tendiere zum Allgemeinen, ich mag keine Personalisierung, ich mag keine Sonderfälle. Kann man überhaupt in der Metamoderne vom Gesicht der nationalen oder globalen Kunst sprechen? Wie gehen wir das an? Vergleichen wir den Preis der Gemälde von Künstler*innen und für wie viel diese im letzten Jahr auf Auktionen verkauft wurden, dann nehmen wir die Top 3 dieser teuren Künstler*innen und sagen: „Hier sind sie - die Gesichter der Gegenwartskunst"? Stellen wir eine Rangliste der Galerien auf, in denen sie ausgestellt wurden, und sagen: „Dies ist die Top 3"? Oder werden wir nach eigenem Geschmack Namen von drei Künstler*innen nennen? Ich schlage also vor, dass die Menschen sich ihr eigenes Bild machen, ohne sich auf ein Land zu beschränken. Wenn wir über Orte in Estland sprechen, an denen man mehr über den Prozess der zeitgenössischen Kunst erfahren kann, dann empfehle ich hier einen Besuch: Eesti Kaasaegse Kunsti Muuseum, Kumu kunstimuuseum, Viinistu Kunstimuuseum, Uue Kunsti Muuseum, Draakoni Galerii, Vabaduse Galerii, Voronja Galerii, Narva Art Residency, Narva kunstigalerii.

Ist es notwendig, die Kunstgeschichte zu kennen oder reicht es aus, Ausstellungsbroschüren zu lesen, um Gegenwartskunst und ihre Idee zu verstehen?                                                          

Die Broschüre hilft nur zu verstehen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Ausstellung gezeigt wird, kann aber auch den*die Betrachter*in verwirren. Die Wahrnehmung und das Verständnis von Kunst haben viele Ebenen. Es ist nicht so, dass du entweder verstehst oder nicht verstehst. Eines der Kennzeichen guter Kunst ist, dass sie auf vielen Ebenen funktioniert. Auf der naiven Ebene kann der*die Betrachter*in staunen und auf der emotionalen Ebene fühlen. Je mehr Wissen und Erfahrung in der Rezeption der*die Betrachter*in hat, desto mehr Zusammenhänge und Referenzen versteht er*sie. Er*Sie hat die Fähigkeit zum Vergleichen. Man kann auf jeder dieser Ebenen genießen. Was man wirklich für das Verstehen der Kunst braucht, ist ein offenes Bewusstsein. Kunst entsteht nicht auf der Leinwand, Kunst entsteht im Auge des Betrachters*der Betrachterin. Man muss selbst emotional und intellektuell arbeiten, um ein Ergebnis in der Kunst zu erzielen. Kunst ist die gemeinsame Arbeit des Künstlers*der Künstlerin und des Betrachters*der Betrachterin. Sie entsteht aus dem Kontakt dieser beiden Bewusstseine.

Ist die Technik und die Qualität der Arbeit wichtig, wenn im Kontext der Gegenwartskunst die Idee an erster Stelle steht?

Ich würde nicht sagen, dass Können und Qualität nicht wichtig sind, denn fast alle Künstler*innen, die sich vom Realismus entfernt haben (Impressionist*innen, Post-Impressionist*innen und andere) beherrschten ihr Handwerk gut, sie langweilten sich nur. Heutzutage gibt es einen Mythos, dass zeitgenössische Künstler*innen nicht zeichnen könnten, aber das ist nicht immer der Fall. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass ein*e Künstler*in ohne jede Ausbildung, Erfahrung und Fähigkeit in den Prozess des Kunstschaffens passt. Kunst kann man nicht nur konzeptionell generieren. Überall braucht man Geschick, Ausdauer und Arbeit, um das Konzept seiner Arbeit richtig zu erzählen und darzustellen. Es gibt fast keine zu Unrecht nicht anerkannten Künstler*innen.

Wer kann sich in Ihrem Verständnis Künstler*in nennen?   

Jetzt im Zeitalter der Toleranz, des Pluralismus und der Vielfalt kann jede*r sich Künstler*in oder überhaupt allerlei nennen, aber wird er*sie es auch sein? Der Kunstmarkt, Kunsthandel, Galerien und andere Künstler*innen entscheiden, ob man ein*e Künstler*in ist oder nicht. Seit der Postmoderne gibt es eine Methode, um Kunst von Nicht-Kunst zu trennen. Sie ist nicht philosophisch, sondern materiell und besteht aus drei Punkten. Erster Punkt: Alles, was wie Kunst aussieht, ist Kunst. Zweiter Punkt: Alles, was sich an einem Ort befindet, an dem sich normalerweise Kunstobjekte befinden, ist Kunst. Dritter Punkt: Alles, was als Kunst gekauft und verkauft wird, ist Kunst. Wenn die drei Punkte erfüllt sind, hast du Kunst vor dir und ihr*e Urheber*in ist ein* Künstler*in.

Wann haben Sie das letzte Mal das Gefühl der Katharsis beim Betrachten einer Arbeit verspürt oder haben Sie es überhaupt jemals erlebt?               

Ja, das habe ich. Ich halte mich für einen sensiblen Menschen. Ich würde nicht sagen, dass ich bei einem Werk einen ganzen Sturm der Gefühle im Sinne des antiken Verständnisses von Katharsis erlebt habe, so wie es im antiken Griechenland der Fall war, wo eine Person nach dem Anschauen eines Drama weinte und das ganze Leben auf den Kopf gestellt wurde. Für mich ist Katharsis eine geistige Reinigung, eine Art emotionaler Aufruhr im Inneren, nach dem sich ein angenehmes Gefühl einstellt. Zum Beispiel habe ich gestern den Film Luka von Pixar gesehen. Da habe ich eine Mini-Katharsis erlebt, ich erinnerte mich an einen Sommer in Narva-Jõesuu, als ich 12 Jahre alt war. Normalerweise produziert Pixar Meisterwerke, dieser Film war durchschnittlich und es ist trotzdem passiert. Außerdem habe ich gestern den Roman Ein Mann namens Uwe von Fredrik Backman beendet, was ich ehrlich gesagt, als schlechte Literatur bezeichnen würde, so auf dem Niveau von Blogposts oder Facebook-Einträgen. Aber dennoch mochte ich es, es ist ein sehr schönes kleines Buch. Von den Filmen, die ich vor kurzem gesehenen habe, hat mir der oscarprämierte Film Nomadland von Chloé Zhao gefallen. Katharsis kann also nicht nur bei großen und ernsten Werken erlebt werden. Obwohl ich glaube, dass wir alle ein wenig müde von der starken Katharsis sind, da wir heutzutage ständig Kunst unterschiedlicher Arten und Ebenen konsumieren. Daher ist es durchaus möglich, leichte, unkomplizierte und sogar negative Emotionen zu erleben. Auch der*die Zuschauer*in muss seinen*ihren Teil zur Mitgestaltung beitragen, um eine starke Katharsis zu erleben.
 

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