Welt
Sieben verschiedene Geschichten

Brille mit verschiedenfarbigen Gläsern. © Liisi Grünberg

Den Mut zu haben, anders zu sein, ist befreiend. Aber es ist ein noch besseres Gefühl, Menschen zu finden, mit denen man gemeinsam anders sein kann.

Heneliis Notton

Rasmus
Rasmus ist der Meinung, dass es kein nervigeres Gespräch gibt als dieses um die Frage, „ob man Ananas auf Pizza legen soll oder nicht“. Außerdem gibt es auch keine bedeutungslosere Frage als „Bist du ein Morgenmensch oder eine Nachteule?“. Manchmal fällt es Rasmus schon schwer, einfach nur Mensch zu sein – ganz zu schweigen von den Entscheidungen, ob er nun ein Morgenmensch oder eine Nachteule, ein Automensch oder ein Fahrradmensch, ein Katzenmensch oder ein Hundemensch sein soll.

Eva
Als Eva 16 war, hatte sie einen 35-jährigen Freund mit Bart, der als Hobby Autos zerschlug und selbst Zigaretten drehte. Raul war sein Name. Raul sagte oft, dass Eva etwas Besonderes sei, anders, überhaupt nicht wie andere Mädchen und für ihr Alter deutlich reifer als Rauls Altersgenoss:innen. Als Eva 35 wurde, brauchte sie niemanden mehr, der ihr sagte, wie besonders sie war. Sie wusste es selbst.

Jelizaveta
Nachdem sie das Wochenende bei ihrer Großmutter in Maardu verbracht hat, steigt Jelizaveta in den Bus. Zum Glück gelingt es ihr, am Fenster zu sitzen, wo der Platz neben ihr leer ist. Letztes Wochenende hat sich Jelizaveta zu Hause vor dem Spiegel einen Vokuhila geschnitten. Da ihre Haarfarbe seit einem halben Jahr abwechselnd blau, rosa oder lila ist, ist sie kaum zu übersehen. Der Bus bremst plötzlich, sobald er die Haltestelle verlässt. Die Türen öffnen sich erneut, und eine Frau in den Fünfzigern betritt keuchend den Bus. Zusätzlich zu ihrer Handtasche hat sie auch noch zwei große Plastiktüten in der Hand. Jelizavetas Blick verweilt auf den Plastiktüten, während die Frau Jelizavetas Haare mustert. Sie runzelt die Stirn, stopft aber trotzdem die Plastiktüten neben Jelizavetas Füße und setzt sich. Hätten sie miteinander geredet, so wäre schnell klargeworden, dass die Frau (die Irina heißt) als Kindergärtnerin arbeitet und eine Kollegin von Jelizavetas Großmutter ist. Sie hätten Erinnerungen an den Maardu-Grill austauschen und die lokalen Schönheitswettbewerbe besprechen können. Des Weiteren wäre auch rausgekommen, dass das Lieblingshobby von beiden Rollschuhlaufen ist. Sie hätten sich auf Russisch unterhalten, was Jelizaveta vermisst, wenn sie bei ihrer Mutter lebt. Aber es kommt nicht dazu. In Tallinn angekommen, sagt Jelizaveta nur noch „izvinitje“, um sich an der Frau vorbeizudrängeln und aus dem Bus auszusteigen.

Karl
Karl wurde in Florida geboren, seine Mutter jedoch in Estland und sein Vater in Weißrussland. In Florida heißt es, er sei Osteuropäer, der Sohn eines Einwanderers. In Estland mal ein Amerikaner, mal ein Russe. Such dir was aus!

10.c
In der Klasse 10c gibt es insgesamt 20 Schüler:innen. Zwei Personen haben ein arbeitsloses Elternteil. Drei Personen haben ihren Vater nie getroffen. Von vier Personen ist ein Elternteil nicht estnisch. Fünf Personen gehören zur LGBTQ+-Community. Bei sechs Personen wurde eine Depression diagnostiziert. Sieben Personen haben keine Großeltern. Acht Personen sind getauft. Neun Personen haben eine drei in Mathe. Von zehn Personen sind die Eltern geschieden. Elf Personen können Ironie verstehen. Zwölf Personen hassen es, morgens früh aufzustehen. Dreizehn Personen denken, dass das Essen in der Schulkantine schlecht ist. Vierzehn Personen glauben an eine höhere Macht. Fünfzehn Personen erinnern sich an den Geburtstag des Klassenlehrers. Sechzehn Personen sind zur Rebastepidu (typisch estnischen Einweihungsparty) gegangen. Siebzehn Personen machen keine rassistischen oder homophoben Witze. Achtzehn Personen hatten noch nie ein vergipstes Bein. Neunzehn Personen haben noch nie einen geliebten Menschen durch Selbstmord verloren. Zwanzig Personen, die wissen, dass es einfacher ist, Unterschiede zu respektieren, indem man die Gemeinsamkeiten hervorhebt.

Kai
Kai ist Künstler und seine Eltern verstehen nicht, warum er nichts Sinnvolles mit seinem Leben anfangen kann. Sie verstehen moderne Kunst nicht und Kai glaubt, dass sie es nicht einmal versuchen. Bei Familientreffen ist es einfacher, über das Wetter, den Enkel vom Nachbarn, Tante Helju oder die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten von Ingwer zu sprechen. Kai fragt nicht, warum er und sein Bruder unterschiedliche Nachnamen haben, und seine Eltern fragen nicht, wann Kai einen normalen Job findet oder Kinder bekommt.

Maria ja Piia
Bevor sie Maria traf, hatte Piia nie darüber nachgedacht, wie unmöglich es ist, auf den Straßen von Tallinn einen Rollstuhl zu benutzen. Oder bei einem Theaterbesuch eine schwere Holztür zu öffnen. Einen Parkplatz zu finden, auf dem nicht schon jemand parkt. Oder eine Toilette zu finden, die Rollstuhl gerecht gebaut ist. Gleichzeitig hatte man Pia beigebracht, eine Person im Rollstuhl nicht anzustarren. Und dass man so tun muss, als würde man ihn nicht bemerken. Hätte Piia jedoch darauf gehört, wäre sie heute nicht mit Maria befreundet.

Gleichzeitig hat Maria vor ihrem Treffen mit Piia nie darüber nachgedacht, wie es ist, in einer „Sonderklasse“ oder einer „kleinen Klasse“ auf der anderen Seite des Schulkorridors zu lernen. Maria wusste, dass „besondere Kinder“ eine andere Aufmerksamkeit der Lehrerin benötigen, aber als sie Piia kennenlernte, verstand sie immer noch nicht, in welcher Weise Piia im Gegensatz zu anderen „besonders“ ist. Und warum dieses „Besondere“ immer in Anführungszeichen stehen muss.

Dass jede Person anders ist, ist einfach und gleichzeitig furchtbar schwer zu verstehen. Aufgrund der Tatsache, dass jede:r versucht, den eigenen Platz zu finden, vielleicht sogar einer gewissen Gruppe von Menschen zu ähneln, sollte es wenig überraschen, dass alle unterschiedlich sind. Einerseits bedeutet dies, dass wir alle auf unsere eigene Art und Weise verschieden sind. Andererseits bedeutet es aber auch, dass einige von uns ähnlich unterschiedlich oder unterschiedlich ähnlich sind.

Dennoch gehen Unterschiede mit Missverständnissen, Wut und Nichtakzeptanz einher. Dies gilt insbesondere in der heutigen Welt, in der wir täglich einer endlosen Anzahl verschiedener Kulturen und Subkulturen konfrontiert sind und es für manche überfordernd sein kann, etwas über sie zu lernen. Auch die Angst, von der Norm abzuweichen, zwingt uns manchmal dazu, hart über diejenigen zu urteilen, die genau dies wagen. Allerdings ist Verstehen nichts, was einfach da ist oder nicht, und auch nichts, was sich über Nacht entwickelt. Wir neigen dazu, das zu verstehen, was uns bereits in Teilen vertraut ist. Aber Verstehen erfordert Arbeit und ist an sich Lernen und Hingabe. Wahrscheinlich sind wir noch nicht einmal auf die Hälfte der Unterschiede gestoßen, die wir im Laufe unseres Lebens verstehen werden, ganz zu schweigen von all den Dingen, die wir nie verstehen werden.

Den Mut zu haben, anders zu sein, ist befreiend. Aber es ist ein noch besseres Gefühl, Menschen zu finden, mit denen man gemeinsam anders sein kann, in deren Gesellschaft man gemeinsam allein sein kann. Jede Person hat ihren eigenen Platz. Man muss ihn nur finden.

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