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Armut – die Schande des Kapitalismus

Die Illustration zeigt eine junge Frau, die traurig vor sich hin grübelt. © Marite Kuus 

Jugendarmut ist sowohl in Estland als auch im wohlhabenden Westen ein ernstes Problem, wobei sich Politiker*innen kaum für die Probleme der Jugend interessieren. 

Õnne  Paulus

Im Vorfeld der Wahlen boomt die auf Rentner*innen ausgerichtete Kampagne. Es ist ja bekannt, dass die Älteren für Politiker*innen ein ordentlich zur Wahl gehendes und dankbares Publikum sind. Investitionen in Zeit und Versprechungen für junge Menschen werden andererseits als nicht sinnvoll angesehen, da die Jugend sich quasi nicht beeinflussen lässt. Junge Menschen haben ein wechselhafteres Gemüt und sind an manchen Stellen auch passiver. Sie wissen selbst nicht einmal, was sie wirklich wollen! Doch die Situation vieler junger Menschen in Estland, aber auch anderswo in Europa, ist bedauerlich.

Erschwerte Gegebenheiten  

Jugendarmut ist oft für das bloße Auge nicht sichtbar. Vielmehr ist es etwas, das eifrig versteckt oder ausradiert wird. Die Angst, in Armut zu verfallen, und die Sorge um die Meinung anderer zwingen junge Menschen dazu, hart zu arbeiten, so dass die Freude an der Jugend und die Fürsorge für sich selbst irrelevant und bald unbedeutend werden. „Tatsächlich hat der arbeitende Mensch heute nicht mehr die Muße, sein Leben Tag für Tag wirklich sinnvoll zu gestalten. Wahrhaft menschliche Beziehungen zu seinen Mitmenschen kann er sich nicht leisten; es würde den Marktwert seiner Arbeit herabsetzen“, sagt der amerikanische Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau in seinem Buch Walden: oder Leben in den Wäldern. Aber so sollte es definitiv nicht sein.

Das in der Gesellschaft verankerte kapitalistische Denken erdrückt viele junge Menschen. Nicht alle wurden mit einem goldenen Löffel im Mund geboren und werden es auch in Zukunft nicht. In eine arme Familie hineingeboren zu werden, nimmt einem jungen Menschen viele Chancen und bringt ihn in eine verletzliche Lage. Unter Armut leidende junge Menschen lassen sich leichter ausnutzen, denn die Angst, Geld, aber auch Anerkennung zu verlieren, ist groß. Daher kann es sein, dass ein junger Mensch für unannehmbar wenig Geld arbeitet, sich körperlich ausbeuten und von den Besserverdienenden versklaven lässt. Armut schränkt junge Menschen bereits im Kindergarten und in der Schule ein – nicht jede*r kann teure Klassenfahrten oder Veranstaltungen besuchen, was oft zu einem Gefühl der Ausgrenzung führt. Der Erhalt kostenloser psychologischer Hilfe, um diese Schmerzen zu lindern, ist nicht immer möglich. 

Nicht nur im Globalen Süden  

Es ist allgemein bekannt, dass gebrauchte Kleidung nicht mehr nur für Geringverdiener ist, sondern auch für Reiche, die sich von der Masse abheben oder die Umwelt schützen wollen. In Großbritannien und anderswo hat dies zu einem Preisanstieg geführt. Das ist in Estland zum Glück besser, wobei auch hier die Preise gestiegen sind. 

Betrachtet man das Armutsbild in Europa, so ist die Situation in Estland eine der ärmsten. Laut Eurostat-Daten aus dem Jahr 2018 betrug die relative Armutsquote in Estland 21,9 % (EU-Durchschnitt 17 %). Im Jahr 2019 verkündet das Statistische Amt Estland eine absolute Armutsquote von 2,3 %, während sie in der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen bei 5,8 % liegt. Des Weiteren gibt es in Estland auch einen der größten Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen, was letztere in eine schwierige Lage bringt und sie anfälliger für Armut macht (im Jahr 2020 betrug der Lohnunterschied 15,6%). 

Die Schließung von Schulen aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus ließ die Früchte der Armutsungleichheit deutlich werden – vielen Schülern*innen fehlte es an Computern und einem stabilen Internetzugang für den Fernunterricht. Depressionen und Angstzustände nahmen sowohl bei Schülern*innen als auch Lehrer*innen zu. Allerdings waren die Systeme für Abhilfe unzureichend und unterfinanziert, wodurch vielen die Unterstützung verwehrt blieb. Für viele wurde die einzig warme Mahlzeit des Tages – das Mittagessen in der Schule – bald durch Rohkost ersetzt. Auch die Jugendarbeitslosigkeit stieg sprunghaft an. Die Arbeitslosigkeit junger Menschen im Alter von 20 bis 26 Jahren ist im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 5,8% gestiegen. 

Die estnischen Medien haben auch erschreckende Geschichten darüber berichtet, wie junge Menschen weder studieren noch arbeiten, sondern einfach in Bushaltestellen, Einkaufszentren und Parks abhängen. Ein Kuriosum war die Corona-Beschränkung im Blick auf das Entfernen von Sitzbänken und kostenlosem WLAN in Einkaufszentren, die sich speziell auf junge und arme Menschen auswirkt. Darüber hinaus wurden sogar Menschenansammlungen in Wäldern mithilfe von Drohnen und Polizeistreifen aufgelöst. 

Jungen Menschen fehlt es oft an Fähigkeiten und Erfahrungen, um sich selbstständig zu versorgen. Anstatt in Frieden und Sicherheit zu leben, muss man sich ständig um Unterkunft und Essen sorgen. 

Eine feministische Frage 

Ein zu betonendes Beispiel für Jugendarmut sind die Kosten der Menstruationshygiene. Während für berufstätige Frauen Damenbinden nicht zu teuer sind, hat jedoch beispielsweise nicht jede Zwölfjährige die Möglichkeit, Hygieneartikel zu kaufen. Sie verfügt nicht über eigenes Geld und obendrein ist es einigen vielleicht peinlich, diese zu kaufen. Es ist beängstigend, dass jedes zehnte Mädchen in Estland in der Schule fehlt, weil sie die notwendigen Hygieneartikel für ihre Periode nicht kaufen konnte (Procter & Gamble 2019 Umfrage). Als eine Art Akt des Aktivismus überreichten wir, die Jungen Sozialdemokraten und Gleichgesinnte, deshalb im Frühjahr eine Petition der Volksinitiative an die Premierministerin des estnischen Parlaments, in der wir die Verringerung der menstruationsbedingten Armut forderten. Unter anderem forderten wir eine Senkung der Mehrwertsteuer auf 9% für Tampons, Damenbinden und Windeln. Wir hoffen, dass Veränderungen eintreten werden. 

Natürlich kann man sagen, dass es sich hierbei um ein Pseudoproblem der westlichen Gesellschaft handelt, welches einen vergessen lässt, dass gerade Frauen und Kinder die größten Opfer von Kriegs- und Katastrophenherden sind. Dennoch muss man auch Verständnis für diejenigen aufbringen, die nicht weit weg, sondern neben uns wohnen. 

Solidarität nicht Kapitalismus 

Die Armutsbekämpfung muss verstärkt werden. Wir dürfen nicht nach den Mustern des Kapitalismus handeln, die uns eine finanzielle Denkweise aufzwingen – je mehr Geld, desto schöner und glücklicher das Leben. Junge Menschen sollten zum Nachdenken ermutigt werden, ob die Meinung anderer oder die Verwendung von Gegenständen wichtiger ist. 

Die Coronakrise hat gezeigt, dass das Land ohne Reinigungs- und Pflegekräfte, Lehrer*innen oder Verkäufer*innen nicht auskommt. Es ist nichts falsch daran, einen Job zu wählen, der vielleicht nicht für jede*n wertvoll erscheint, aber einem selbst Freude und Selbstverwirklichung bietet. Ein anständiges Gehalt ist in jedem Job notwendig, aber Wohlstand sollte kein Selbstzweck sein. 

Die linke Denkweise sollte mehr Solidarität bieten, die auch junge Menschen ermutigt, aktiv zu werden, für ihre Rechte einzustehen und Bereitschaft zu zeigen. Wir müssen aus der universellen Passivität ausbrechen und das Leben wagen.


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