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Eine Kehrtwende bei der heutigen Arbeitskultur

Zeichentrickartige Charaktere © Nadezda Andrejeva

Ich öffne das estnische Synonymwörterbuch und gebe „arbeiten (estn. töötama)“ ein. Es ist keine große Überraschung, wenn die ersten Synonyme des Wortes lauten: schuften; sich anstrengen; für mehrere Herren schuften; arbeiten wie ein eingespannter Ochse; arbeiten, was das Zeug hält; sich in Stücke zerreißen.

Emily Mirelle Vutt

Es ist festzustellen, dass die ältere Generation daran gewöhnt ist, ausgebrannt zu sein, viele Überstunden zu leisten und ihr soziales Leben für die Arbeit aufzugeben. Oder sie es gewohnt sind, wie es im Wörterbuch des Estnischen Sprachinstituts EKI heißt, sich „um der Arbeit willen sogar in Stücke zu zerreißen“. Deshalb sind sie zutiefst verärgert, wenn ein junger Mensch mehr Ruhe, höhere Löhne und feste Arbeitszeiten wünscht. Die ältere Generation scheint zu denken: „Wenn ich ertragen habe, wirst du auch ertragen.“ In dieser Mentalität scheint sich der Neid auf die neuen gesellschaftlichen Normen, die erweiterten Arbeitnehmerrechte und die Flucht aus der "Matrix" widerzuspiegeln, in der die älteren Generationen seit der industriellen Revolution gefangen sind.

Die Kluft zwischen jungen Menschen und dem Arbeitsmarkt wird sich erst dann schließen, wenn die ältere Generation zu verstehen beginnt, dass wir als Gesellschaft bereit sind, den Normzustand, das Leben dem Arbeitsstress zu opfern, hinter uns zu lassen. Wenn ich als junger Mensch den heutigen Arbeitsmarkt betrachte, empfinde ich oft ein starkes Gefühl der Abscheu, denn ich sehe, dass heutige Organisationen nach den Prinzipien aus Webers vor über hundert Jahren verfasstem Werk „Bürokratie“ funktionieren. Feste Regeln, hierarchische Strukturen und Arbeitsteilung sind der "Traum" einer älteren Generation, der zu einer maschinenartigen Arbeitskultur geführt hat. Der Mentalitätswechsel zeigt sich auch daran, dass junge Menschen deutlich weniger bereit sind, sich langfristig an einen einzigen Arbeitgeber zu binden. Fast jeder fünfte junge Mensch möchte nach einem Jahr Berufstätigkeit den Job wechseln.

Junge Menschen sind auf dem Arbeitsmarkt gefährdet

Wenn wir für junge Menschen unterschiedlichen Hintergrunds nicht die Türen zum Arbeitsmarkt öffnen und in ihre Fähigkeiten investieren, gehen uns potenzielle Talente und Kreativität verloren. Am Ende schießen wir uns dadurch selbst ins Bein. Die missliche Situation junger Menschen auf dem Arbeitsmarkt wird mit dem Satz „Wer als Letzter eingestellt wird, wird als Erster entlassen“ beschrieben. Sie sind die am stärksten gefährdete Altersgruppe auf dem Arbeitsmarkt. Junge Arbeitnehmer:innen sind finanziell kaum abgesichert, wodurch es ihnen sehr schwer fällt, mit der Inflation klarzukommen. Daher sind sie oft gezwungen, jeden verfügbaren Job anzunehmen, auch wenn er weniger bezahlt wird, als ihre Fähigkeiten erfordern würden. Dies führt zu einem Verlust an ausgebildetem Humankapital, der weitgehend verhindert werden könnte, wenn man jungen Menschen eine Chance geben würde. Die Abwanderung junger Menschen ist auch wirtschaftlich schädlich für das Land – geringere Einkommen, geringere Produktion und geringere Produktivität.

Wie kann man jungen Menschen den Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtern?

Das Wohl der Mitarbeiter:innen muss in den Mittelpunkt gestellt werden, es muss zielorientiert vorgegangen werden. Junge Arbeitnehmer:innen möchten das Gefühl haben, dass ihre Arbeit sowohl für die Menschheit als auch für den Planeten wichtig ist. Sie wünschen sich bezahlten Urlaub, Unterstützung bei der mentalen Gesundheit, Job-Coaching und die Gewissheit, dass sich ihre Vorgesetzten um sie kümmern. Seit Jahrzehnten weisen Personalmanager:innen auf der ganzen Welt darauf hin, dass der Erfolg von Organisationen maßgeblich im sozialen Erfolg, also im Wohlbefinden der Menschen, liegt. Eine gute Work-Life-Balance ist kein neues und jugendliches Prinzip, sondern wird seit fast 40 Jahren entwickelt.

Die meisten Studien zeigen, dass das Alter keine Rolle für die Produktivität der Menschen spielt. Die jüngere Generation zeichnet sich jedoch durch schnelle Lernfähigkeit und Anpassungsfähigkeit aus. Wenn verschiedene Generationen ihre Ideen, Fähigkeiten und Erfahrungen teilen, profitieren Unternehmen vom Wissen älterer Generationen und den frischen Ideen, neuen Perspektiven und der technischen Expertise junger Menschen. Dies führt zu einem stärkeren Zusammenhalt der Teams und letztendlich zu einer produktiveren Arbeitsumgebung.

Das Wichtigste ist jedoch, das bestehende „Berufserfahrungsparadoxon“ zu überwinden, das jungen Menschen den Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt. Mit dem Paradoxon der Berufserfahrung ist gemeint, dass ein junger Mensch zwar eine Berufsausbildung abschließt, aber nicht in den Arbeitsmarkt eintreten kann, da für eine berufliche Tätigkeit mindestens drei Jahre Berufserfahrung erforderlich sind. Aus diesem Grund können junge Menschen keine Berufserfahrung sammeln – obwohl für alle Jobs Vorkenntnisse erforderlich sind. Junge Menschen nehmen oft Jobs an, für die sie überqualifiziert sind, und leiden unter schlechter Bezahlung, Überstunden und Burnout.

Eine Lösung wäre, Praktika zu vergüten und diese so zu reformieren, dass künftige Arbeitgeber:innen Berufspraktika als Berufserfahrung betrachten. Oftmals trauen sie sich nicht, einem jungen Menschen im Praktikum ausreichend Verantwortung zu übertragen, was sich auch auf den weiteren beruflichen Werdegang auswirkt.

Wir brauchen einen Jugendausschuss

Darüber hinaus sollten meiner Meinung nach die Vertretungen der Arbeitgeber:innen und der Arbeitnehmer:innen – wie der Estnische Zentralverband der Arbeitgeber:innen und der Estnische Gewerkschaftsbund – zusammenkommen und einen Jugendausschuss bilden, dem junge Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund angehören und welcher als beratendes Organ fungiert für die Verbesserung der Lage des Arbeitsmarktes. Die Arbeitsmarktpolitik und die Mentalität gegenüber jungen Menschen können durch nichts anderes als durch die direkte Kommunikation mit jungen Menschen selbst verbessert werden. Es gilt, Problemfelder zu identifizieren und Lösungen zu finden, die tatsächlich sogar bereits bestehen. Die Erkenntnis, dass die Zielgruppe in die Entscheidungsfindung einbezogen werden muss, ist eigentlich nichts Neues.

Die heutige Arbeitskultur muss eine Kehrtwende vollziehen, um die Talente junger Menschen besser zu nutzen und auch die Lebensqualität älterer Menschen zu verbessern. Junge Menschen sind die Frucht der Zukunft – deshalb müssen sich auch Arbeitgeber:innen anstrengen und auf die Zukunftsgestalter:innen achten, denn sonst „zerreißen wir uns bei der Arbeit weiter in Stücke“ oder im schlimmsten Fall verlieren wir uns im Schoß einer Kultur der Maschinenbürokratie.
 

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