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Gespräche über den Wandel mit Estland-Besucher:innen

Möwe fliegt über das Wasser © Maren Wilczek, Unsplash

Haben ihr euch vorgestellt, wie ihr die Gesellschaft täglich verändert und wie diese euch verändert? Die Personen, die ihr im Artikel kennenlernt, hatten keine Angst, ihre Komfortzone zu verlassen. Sie kamen nach Estland und trugen zu dem bei, was Estland heute ist.

Viktoria Savitševa

Alisa aus der Ukraine studiert Jugendarbeit am Narva College und arbeitet bei Projekten von VitaTiim mit.
Ilia aus Georgien macht gerade seinen Bachelor und arbeitet nebenbei.
Der 17-jährige Elia kommt aus Italien und nimmt derzeit an einem Austauschprojekt in Bolivien teil.
Amina aus Spanien studiert im Rahmen des Erasmus-Programms an der Universität Tartu.
Kseniia aus Russland ist Gymnasiastin und arbeitet für ENSKIED.
 

Wann seid Ihr nach Estland gekommen?

ALISA: Das erste Mal kam ich im Oktober 2019 im Rahmen eines ESC-Freiwilligendienstes für ein Jahr nach Estland. Jetzt wohne ich hier.

ILIA: Ich bin am 1. Oktober 2021 für 3 Monate zum Studium hergekommen.

ELIA: Ich war im Juli 2021 etwa für zehn Tage in Estland.

AMINA: Ich bin im August 2022 angekommen und bleibe bis Juni 2023.

KSENIA: Ich bin im Juni 2016 mit meiner Familie nach Estland gezogen und wohne seitdem hier.
 

Welche Schwierigkeiten hattet ihr?

ALISA: Es gab keine besonderen Schwierigkeiten, da alle in Ida-Virumaa Russisch sprechen und ich von sehr netten Menschen umgeben war, die mich immer unterstützt haben. Es war nur ungewöhnlich, dass es so wenig Menschen auf der Straße gab.

ILIA: Das Klima war die größte Schwierigkeit, da ich aus einem südlichen Land komme, aber nach einem Monat hatte ich mich daran gewöhnt. Mir wurde gesagt, dass die Menschen in Estland kühl und verschlossen sind, was ich so aber nicht sagen kann. Der einzige Unterschied war, dass wir im Gespräch mehr Gesten verwenden, aber das war kein Problem. Ich denke, wir hatten sehr viel Glück mit den Leuten.

ELIA: Besonderen Schwierigkeiten gab es für mich nicht, außer dass nicht alle in Estland Englisch sprechen. Aber dieses Problem wurde von den örtlichen Freiwilligen gelöst, die als Übersetzer:innen fungierten.

AMINA: Die Schwierigkeit bestand darin, sich an das Wetter zu gewöhnen und von Familie und Freunden getrennt zu sein.

KSENIIA: Anfangs habe ich mir große Sorgen um die Sprache und den Unterricht in der Schule gemacht. Vor unserem Umzug waren wir einige Male als Touristen in Estland. Und jetzt war der Unterricht auf Estnisch. Aber ich bin der Schulleiterin dankbar, da sie meiner Schwester und mir entgegengekommen ist und uns die Möglichkeit geboten hat, nach einem anderen, etwas einfacheren Lehrplan zu lernen, um das Niveau der Klasse zu erreichen. 
Schwierigkeiten waren außerdem Kommunikation und Freizeit. Natürlich hatte ich wie jedes Kind Angst, dass ich hier keine Freund:innen finden würde. Meine alten Freund:innen waren ja alle in Russland geblieben. Aber in beiden Schulen, auf die ich ging, habe ich fast sofort neue Bekanntschaften geschlossen – die Klassenkamerad:innen waren sehr freundlich. Und ich habe auch etwas gefunden, was ich in meiner Freizeit machen kann: Ich habe eine neue Sportart ausprobiert, das Rudern, und bin eine Weile zur Musikschule gegangen.
 

Wie beeinflusst ihr die Gesellschaft in Estland bzw. habt diese beeinflusst?

ALISA: Ich habe einen direkten Einfluss auf die Gesellschaft, da ich mit Jugendlichen und Kindern arbeite. Ich möchte gerne sehen, wie ihre Augen vor Ideen leuchten und ihnen bei all ihren Bemühungen zur Hilfe stehen.

ILIA: Ich habe die Kultur meines Landes geteilt und das hat mir sehr gut gefallen.

ELIA: Ich hoffe, ich habe einen guten Einfluss auf die Einheimischen gehabt, indem ich etwas über die italienische Kultur und auch über mich erzählt habe.

AMINA: Meinen größten Einfluss habe ich auf die Stadt Tartu, weil ich hier wohne. Tartu ist eine Studierendenstadt und ich denke, es sind die Studierenden, die der Stadt Leben einhauchen. Ich bin ebenfalls Studentin und ich denke, dass sich die Stadt dank uns weiterentwickelt und voran bewegt.

KSENIIA: Ich bin derzeit in der 12. Klasse. Außerdem arbeite ich bei ENSKIED, wo Gymnasiast:innen und Student:innen Start-up-Ideen finden können. Unser Team hilft bei der Umsetzung. Ich war lange Zeit Freiwillige im Zentrum für informelles Lernen VitaTiim. Bei VitaTiim habe ich bei der Organisation von Veranstaltungen, Ferienlagern und Projekten mitgewirkt.
 

Wie hat die estnische Gesellschaft euch beeinflusst?

ALISA: Stimmt, die Gesellschaft beeinflusst auch mich. Da ich in meiner Kindheit und Jugend nicht die gleichen Möglichkeiten hatte wie die Kinder heute, interessiere ich mich sehr dafür, soviel wie möglich zu entdecken.

ILIA: Es war das erste Land, das ich besuchte. Nach Estland hat sich mein Leben radikal verändert. Ich denke darüber nach, mich an der Universität Tartu zu bewerben. Ich mag Estland sehr. Es ist kann ein Vorbild für mein Land sein, wie sich ein postsowjetisches Land entwickeln kann.

ELIA: Meiner Meinung nach wird die Wahrnehmung Estlands und damit auch seiner Einwohner:innen sehr von der Nähe zu Russland beeinflusst, was oft zu der Annahme führt, dass Estland und Russland ein und dasselbe sind. Mittlerweile weiß ich, dass es einen großen Unterschied zwischen diesen beiden Nationen gibt. Die Est:innen, denen ich begegnet bin, haben mich immer fasziniert.

AMINA: Die estnische Mentalität hat mich gelehrt, die Stille und den Raum anderer Menschen mehr zu respektieren. Das war ein starker kultureller Unterschied.

KSENIIA: In Estland habe ich mich selbst gefunden. Nachdem ich verschiedene Aktivitäten ausprobiert hatte, fand ich heraus, was mir gefällt. Und jetzt helfe ich anderen jungen Menschen dabei – hauptsächlich in der Stadt Narva. Ich denke, dass meine Projekte einen großen Einfluss auf die Gesellschaft haben und jungen Menschen helfen, sich selbst zu finden, auszuprobieren und sich inspirieren zu lassen. Deshalb versuche ich, viele Jugendliche in Projekte einzubeziehen.
 

Lohnt es sich, hierzubleiben?

ALISA: Ich bin geblieben, weil ich Entwicklungsmöglichkeiten sehe und hier gebraucht werde. Auch meine Umfeld gefällt mir sehr. Mir ist wichtig, dass ich von Menschen umgeben bin, die mir sympathisch sind.

ILIA: Ich mag die Menschen, die in Estland leben, sehr. Sie sind gastfreundlich. Ich mag die Atmosphäre und die Menschen, weshalb ich später ein zweites Mal nach Estland kam.

ELIA: Ich würde nicht lange in Estland bleiben, da das Klima ziemlich kalt ist. Aber im Sommer ist es ein sehr angenehmer Ort, an dem man viel sehen und lernen kann. Ich werde auf jeden Fall wiederkommen.

AMINA: Ich würde nicht bleiben. Es mir scheint, dass das Leben hier ziemlich schwer und einsam sein kann. Aber ich würde gerne im Sommer hierher zurückkehren, um meine Erfahrung wieder aufleben zu lassen.

KSENIIA: Ich würde nicht sagen, dass meine Familie und ich daran denken, Estland zu verlassen. Wir sind umgezogen und sind hier zur Schule gegangen. Die Frage nach einem Umzug hat sich nie gestellt. Natürlich gab es Schwierigkeiten bei der Integration und mit der Sprache, aber letztendlich haben wir die Schwierigkeiten gemeistert und uns selbst gefunden.

Diese Menschen sind nur ein kleiner Teil derjenigen, die unsere Gesellschaft und uns selbst verändern. Jede Geschichte ist nicht nur eine Geschichte, sondern ein gelebter Teil des lokalen Lebens, der sie zu denen gemacht hat, die sie jetzt sind, und der beeinflusst, wie sich ihr Umfeld und wir uns verändern. Auch wenn wir nicht immer alle Details bemerken oder ihnen viel Bedeutung beimessen, verändern sie doch unser Leben.

 

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