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Kann Wut für ein besseres Morgen sorgen?

Ein junger Mann auf einer Brücke im Tallinner Stadtteil Lasnamäe. © Ken Mürk

Zufriedenheit in der Gesellschaft kann durch die Fokusierung auf Gemeinsamkeiten verschiedener Gruppen erreicht werden. Während man instinktiv mit Wut reagieren würde, sollte die Suche nach Lösungen stattdessen mit Verständnis beginnen.

Johann Marga

Zugehörigkeit ist eine nie endende Suche, der wir, wenn auch nur unbewusst, durch das Nachsinnen über unsere Identität Nahrung geben. Die Zugehörigkeit zu Gleichgesinnten gibt uns die Möglichkeit, uns frei auszudrücken und gehört zu werden. Wenn wir über unsere Identität nachdenken, denken wir an die Menschen, mit denen wir interagieren, an die Werte und die Lebensweise, die wir gewohnt sind. Es ist wichtig, dass Vielfalt und Originalität herrschen, die dem Sein einen Sinn und der Identität einen Wert verleihen. Wenn jedoch eine Gruppe von Menschen die Lebensweise einer anderen gefährdet und deren Werte mit Füßen tritt, kommt es zu Konflikten.
Religiös, territorial, prinzipiell oder eigennützig – es ist nie schwer, eine Ausrede für Konflikte zu finden, denn für die überwiegende Mehrheit sind es äußere Faktoren, die man verbiegen muss, um den persönlichen Frieden zu finden.

Das Wort „Krieg“ findet heutzutage in fast jeder Diskussion einen Platz und seine Auswirkungen auf unser kollektives Bewusstsein sind unvorstellbar. Wenn wir so viel über den Krieg nachdenken, geraten wir in eine ängstliche Abwehrhaltung: Natürlich kochen wir vor Wut bei dem Gedanken an die Menschen, die sich aus pseudoproblematischen Gründen dafür entschieden haben, so viel Leid zu verursachen. Für den Großteil der Welt ist der Krieg in der Ukraine etwas Fernes: Der Zorn der Zuschauer:innen richtet sich gegen Russland als eine vage Machtansammlung ohne Grenzen. Allerdings ist die Wut der Est:innen viel persönlicher: Wir hatten immer Angst vor unseren ehemaligen Besatzer:innen und darüber hinaus mussten wir der Tatsache Rechnung tragen, dass ein erheblicher Teil der estnischen Bevölkerung eher russisch ist als estnisch.

Seit Estland 1991 seine Unabhängigkeit wiedererlangte, ist das Verhältnis zwischen Est:innen und Russ:innen mehr oder weniger angespannt. Während der Sowjetzeit konnte man nicht von einem Volk sprechen, das das Recht hatte, eine Politik zugunsten der estnischen Kultur und Sprache zu machen, und auch nicht von Minderheiten, die dies nicht taten. Der estnische Nationalismus wurde unterdrückt und Menschen, die ihre Identität zum Ausdruck brachten, wurden bestraft. Sowjetische Werte und Regeln waren ohnehin überall etabliert und Menschen, die auf der Suche nach Arbeit hierher einwanderten, ging es nicht schlechter als den Einheimischen. Nach der Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit konnten die Est:innen, die die blau-schwarz-weiße Flagge schwenkten und patriotische Lieder in ihrer Muttersprache sangen, unabhängig über ihre eigene Bildung, Sprache, Kultur und Politik der Integration anderer Nationalitäten entscheiden. Es ist daher nur natürlich, dass eine plötzliche, drastische Veränderung in der Heimat von Russ:innen in Estland frustrierend ist.

Plötzlich aufgrund der Sprachkenntnisse für einen Arbeitsplatz ungeeignet zu sein oder sich isoliert zu fühlen beschränkt auf die wenigen russischsprachigen Kreise, ist dann ein unfaires aber keineswegs unvermeidliches Problem. Andererseits kann man den Esten nicht vorwerfen, dass sie nach einem Regime, das ihnen die eigenen Ausdrucksweisen verbot, den Übergang von auferlegten Regeln zu neuen Regeln schaffen wollen. Der Vorfall um das Denkmal des bronzenen Soldaten war ein Beispiel für die Spannungen zwischen Est:innen und Russ:innen – und deren Verschärfung. Der Konflikt hat gezeigt, dass die Menschen auch nach fünfzehn Jahren die eigene Zugehörigkeit nicht vergessen hatten, und dass Menschen bereit sind, für ihre Werte zu kämpfen, wenn diese keine Berücksichtigung finden.

Auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache

Es ist leicht, Menschen zu tadeln, die "zu" engstirnig sind, was ihren Glauben angeht, und die bereit sind, ihren Standpunkt zu vertreten. Allerdings ist es um ein Vielfaches schwieriger zu akzeptieren, dass nicht alle das Gleiche wollen, selbst wenn man so eng miteinander verbunden lebt. In solchen Situationen ist es notwendig, Geduld zu haben und friedlich zu diskutieren, um eine für alle Parteien faire Lösung zu finden. Das Gleiche gilt für die Wut, die viele Est:innen auf ihre eigene Mitbevölkerung richten: Statt vergeblich mit dem Finger zu zeigen und stumpfsinnig abrupte Entscheidungen durchzusetzen, sollten wir über Wege sprechen, die integrierend und nicht spaltend wirken. Es ist notwendig, die Vergangenheit zu akzeptieren und für ein gemeinsames Ziel zusammenzuarbeiten, nämlich ein besseres Leben für jeden Menschen und den Schutz seiner Werte, seiner Meinungsfreiheit.

Wenn die Probleme unserer Gesellschaft nicht sofort angegangen werden, werden sie sich weiter verschärfen und in immer schwierigerer Form für künftige Generationen zu lösen sein. Konflikte sind eine natürliche Realität zwischen Gruppen von Menschen, die jeweils dafür eintreten müssen, dass ihre Werte nicht verletzt werden. Kulturelle, religiöse und sprachliche Unterschiede sollten wir wertschätzen und nicht versuchen, sie mit Gewalt zu unterdrücken. Wir sollten Kompromisse finden, bei denen niemand außen vor bleibt. Unabhängig von der alptraumhaften Vergangenheit oder dem, was in Estlands Nachbarschaft passiert, können wir nicht pauschal Hass säen und die Kultur, das Zugehörigkeitsgefühl und die Sprache anderer Menschen in unserem eigenen Zuhause verteufeln. Zufriedenheit entsteht nicht über das Austragen von Konflikten, sondern wenn Gruppen von Menschen eine gemeinsame Sprache finden.

 

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