Lustvolles Pöbeln im Kulturprekariat
Über aufmüpfige Aufsteiger*innen

Heringsschwarm Foto: © Public Domain / Rawpixel

Lynn Takeo Musiol und Eva Tepest

Von: Eva Tepest

Betreff: Stillstand

Lynn,

ich lese gerade Heike Geißlers Roman Die Woche und das passt so gut: „Wir proletarischen Prinzessinnen haben einen recht guten Überblick über die derzeit möglichen Lebensläufe.“

Ich denke dabei an unsere Gespräche darüber, welche Möglichkeiten es als Arbeiter*innenkind und/oder Bildungsaufsteiger*in im Kulturbetrieb so gibt. Woran denkst du?

xoxo

Eva

Von: LTM

Betreff: Re: Stillstand

Eva,

seit Kurzem beschäftigt mich das Fischen, genauer: der Hering. Noch vor unserer Zeit kam er zweimal im Jahr ins Boddengewässer. Die Schwärme verdunkelten das Meer wie ein Tintenklecks. „Der Hering stürmt!“, tönte es dann durch ganz Stralsund oder Rügen. Was muss das für ein Ereignis gewesen sein? Spicy. 

Jedenfalls, dachte ich mir, wie herausfordernd das für einen selbst ist: als Aufsteiger*in Praxen zu etablieren, die wiederkehren, die beständig sind, die bleiben. Die einem gut tun. Du weißt ja, wie das ist: Gesellschaftlich aufzusteigen ist das stetige Abarbeiten am Status quo der anderen. Ein stetiges Navigieren an vermeintlichen Defiziten. Ein Aufreiben, um so etwas wie einen Blick zu bekommen.

Erst seit Kurzem bin ich auf der Suche nach etwas, das sich nicht erschöpft. War lange zu müde, um zu suchen. Für mich war es schwer, widerständig zu sein und in einem gesunden Maße lebendig und schöpferisch. Denn der Sound auf der Klaviatur Kultur ist für mich dissonant und verheißungsvoll, das Spiel immer on the edge und totally on point. Lustvolles Pöbeln funktioniert manchmal in dem Gestus eines „Neins“, der Funktion einer Firewall. Das ist vielleicht aufreibend. Ich möchte lustvoll sein und gemeinsam gemeiner.

Um ganz nah bei dir zu bleiben, möchte ich dich fragen: Hast du derzeit einen guten Überblick über mögliche oder unmögliche Lebensläufe?

Take care

xoxo

Von: Eva Tepest

Betreff: ReRe: Stillstand

Babe!

Ich bin ganz gerührt von den Heringen als Tintenklecks. Ich denke mal da weiter: Mögliche Lebensläufe oder Aufsteigen als Metapher
  1. *Der große Wurf*, als da ist: der wundersame Debütroman unter 30, das Stück, das von der Off-Bühne fürs Fernsehen adaptiert wird = der weiße Wal, der sich nie erlegen lässt.
  2. *Das Wassertreten*, die vielen Jobs und das Networking und die Hoffnung, dass uns ein mittelgroßes Honorar oder kleineres Stipendium doch noch über Wasser hält.
Es gibt dabei mindestens zwei Probleme. Einerseits ist es ja sehr unwahrscheinlich, den GROSSEN WURF zu erlangen. Dazu braucht es nämlich mehr Glück als Verstand, Ellbogen und bloß niemanden, der auf unsere Care angewiesen ist.

Andererseits, und das wirkt glaube ich schwerer, brechen wir auf unserem Weg mit den Metaphern unserer Herkunft. Unsere Eltern verstehen ja nicht, was es bedeutet, wenn wir die heiligen Hallen der Hochkultur betreten oder die richtige Person unseren Tweet liked. Und ich glaube, so ganz verstehen wir es selbst nicht. Weil wir an unseren Quirks hängen, unserem Ruhrpott‑Slang und der Schüchternheit, wenn wir uns in sogenannten Kulturtempeln bewegen.

Und so hängt der Hering am dekorativen Haken („Bunte blinzelnde Farben und Goldhaken sind ein Muss“, lese ich im Heringsalmanach) und es ist ganz und gar unentschieden, ob er geangelt wird oder weiterschwimmen darf. Das ist dann weder Erfolg noch Scheitern, nur leben kannst du davon nicht und tust es doch. Das wäre dann der Stillstand, um den es hier ja eigentlich geht.

Ich glaube, ich habe recht, auch wenn meine Metaphern sich widersprechen, „dissonant und verheißungsvoll“ halt. Nur: Was tun? Wie müsste der Köder beschaffen sein, dass wir anbeißen? Oder schaffen wir es in die Weite des Meeres, in dem unser leidiges Küstenleben nicht mehr zählt?

xoxo

E

Von: LTM

Betreff: Cucu

Hello,

da schwimmt man los und es ist nicht zu leugnen, dass ab und an eine gewisse Traurigkeit aufkommt, wenn man zur Küste blickt. Cynthia Cruz schreibt in The Melancholia of Class: A Manifesto for the Working Class etwa: Die Melancholie ist ein Wunsch, zu unseren Ursprüngen zurückzukehren, und gleichzeitig eine Abscheu, ein paralleler Wunsch, ein Drang, wegzubleiben. Das ist kein Stillstand, aber Orientierungslosigkeit, eine Überforderung, und eine Gewissheit, nie genau zu wissen, wann man die Ränder, die Küste, den Boden von dem betritt, was man als Aufsteiger*in begehrt. Und ist es nicht so, dass wir das, was wir meinen zu wollen, wahrscheinlich nie bekommen werden? Wie mit Enttäuschungen umgehen? Wie dadurch solidarisch navigieren?

Dieses „in den Seilen hängen“ hat sicherlich auch damit zu tun, dass uns Vorbilder fehlen. Aufmüpfige Aufsteiger*innen oder proletarische Prinzessinnen. Glaub mir, jene wenige, die ich gefunden hatte in meiner Teenagerzeit, hütete ich wie einen Schatz. Wie Eileen Myles etwa. Auch war es so, dass ich mich nicht selten für sie schämte. Meine Vorbilder waren irgendwie randständig, nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft. Unbekannt. Beschmutzt. Manchmal behandelte ich sie wie Bekannte, die man auf einem Spaziergang sieht und nicht grüßt.

Wie schön wärs, die Hotness unser aller Aufsteiger*innen und Lohnarbeiter*innen regelmäßig zu zelebrieren! Vier Schlagwörter hierzu: xoxo


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Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Das Wetter – Magazin für Text und Musik beauftragt und erstellt.

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