Alltag in zwei Welten
Eine Stadt erwacht aus dem Stillstand

Das Gegenteil von Lebendigkeit: In Berlin ist es nachts nicht besonders schwer, sich einsam zu fühlen. © shutterstock

In Berlin lässt einen das Leben in Ruhe, vor allem nachts. Ganz anders in Delhi. Ruhe oder gar Stillstand sind hier nicht zu Hause.
 

Christopher Kloeble

In Delhi steht die Welt nie still. Das dachte ich jedenfalls lange Zeit. Jedes Jahr besuche ich mit meiner Familie die indische Hauptstadt, in der meine Frau aufgewachsen ist. Der Moloch Delhi macht es einem nicht immer leicht, ihn zu mögen. Lärm, Smog, Müll und soziale Ungerechtigkeit sind nur einige der Probleme, mit denen die Stadt kämpft. Dennoch bin ich gern zu Besuch. Und zwar vor allem deshalb, weil der Alltag dort so viel lebendiger ist als in unserer anderen Heimat Berlin. Selbst in unserer Nachbarschaft, dem umtriebigen Kreuzberg, herrscht nachts viel Stille, nur gelegentlich durchbrochen von den Rufen Feiernder oder dem hohen Summen der U-Bahn in der Ferne. An einem Sonntagmorgen begegnet man kaum Menschen auf der Straße, als wären alle über Nacht aus der Stadt geflüchtet. Und überhaupt ist es doch so: Wenn man das Leben in Berlin nicht sucht, dann lässt es einen in Ruhe. Es ist nicht besonders schwer, sich in der deutschen Metropole einsam zu fühlen.

Nicht so in Delhi. Dort lässt das Leben nicht locker. Es drängt sich einem geradezu auf. Wenn ich die Wohnung nicht verlasse, macht es mich ausfindig. Gleich morgens klingeln kurz hintereinander: der Milchmann, die Bügelfrau, der Müllmann, die Haushaltshilfe. Der Gemüsehändler zieht mit lauten Rufen durch die Straßen. Der Besenhändler und der Snackverkäufer folgen. Zu diesem Morgenkonzert gesellen sich die Papageien, mit ihrem aufdringlichen Geschrei. Außerdem ruft ein Muezzin zum Gebet. Diese akustische Vielfalt wird unterlegt mit den trötenden Hupgeräuschen der berüchtigten Autorikschas.

So, wie jeder Tag beginnt, entwickelt er sich weiter, zu einem unermüdlichen Miteinander. Es kommt oft jemand zu Besuch, mit dem ich nicht gerechnet habe, und es kommt oft jemand nicht zu Besuch, mit dem ich gerechnet habe. Wenn ich mit meinen Töchtern zum Spielplatz gehe, befinde ich mich schnell im Gespräch mit anderen Eltern, viel ungezwungener als in Deutschland. Sobald ich mich aus dem Wohnviertel an die öffentlichen Orte der Stadt begebe, bin ich mittendrin im Strom der Lebendigkeit. Eine Fahrt mit dem Auto in Delhi reicht aus, um sich davon zu überzeugen, dass an jeder Ecke und in jeder Gasse etwas passiert. Ein Freund aus Indien sagte einmal zu mir, in seiner Heimat gäbe es so viele Menschen, er sähe sie selbst dann noch, wenn er die Augen schließt. Ruhe oder gar Stillstand sind hier nicht zu Hause.

Das Leben lässt nicht locker: Delhi steht selten still. Selbst nachts pulsiert es in den Straßen. Das Leben lässt nicht locker: Delhi steht selten still. Selbst nachts pulsiert es in den Straßen. | © shutterstock Umso erstaunter war ich, als ich vergangenen Winter gemeinsam mit meiner Frau und unseren Kindern nach Delhi reiste. Aufgrund von Corona war es der erste Besuch in zwei Jahren. Wir alle hatten Indien sehr vermisst, besonders in den dunklen Berliner Wintermonaten, in denen wenig sozialer Austausch möglich war. Ich kann niemandem raten, die deutsche Hauptstadt in der kalten Jahreszeit zu besuchen. Die Abwesenheit von Licht macht etwas mit den Berliner*innen. Sie werden zu unangenehmen Mitmenschen, die pöbeln und selten grüßen. Im Sommer dagegen verwandeln sie sich in entspannte – oder vielleicht sollte ich eher sagen: relativ entspannte – Großstädter*innen, mit denen man bis tief in die Nacht hinein zusammensitzen kann. Berlin ist in den warmen Monaten eine andere Stadt und ein herrlicher Ort, für Familien, junge und alte Menschen. Sobald sich aber der Herbst ankündigt, sollte man schleunigst abhauen. Mit dem Fallen der Blätter verschwindet auch die lockere Stimmung. In Zeiten von Corona war diese noch grimmiger als sonst.

Daher stellten wir hohe Erwartungen an Delhi. Zu Beginn wurden diese auch erfüllt. Die Infektionszahlen waren niedrig. Meine ältere Tochter konnte eine Kita besuchen und abends an einem Rollschuhkurs im nahen Sportkomplex teilnehmen. Sie schloss Freundschaften und traf sich schon bald zu Playdates. Wir besuchten das Railwaymuseum und empfanden dabei alle die uns fremd gewordene Freiheit, unter Menschen Spaß zu haben.

Wieder mehr Leben

Auch für meine Frau und mich war wieder mehr Leben möglich. Ich litt zwar unter einem Bandscheibenvorfall, aber, wie gesagt, in Delhi lässt das Leben nicht locker. Ein gewisser Doktor Latif kam jeden Morgen zu uns und verschaffte mir mit Akupressur Erleichterung. Außerdem unterhielt er sich bei seiner Arbeit so gern, dass ich danach immer eine trockene Kehle hatte. Zur selben Zeit veröffentlichte meine Frau ihren neuen Roman. Sie wurde von verschiedenen Buchläden in Delhi eingeladen, ihr Werk zu präsentieren, und im IIC veranstaltete der Verleger zum ersten Mal seit Langem wieder eine Buchpremiere. Zu dieser erschienen viele Freund*innen und Bekannte. Einige von ihnen wirkten verhalten. Darauf angesprochen meinten sie, sie hätten seit Monaten keine Veranstaltung mehr besucht. Es war ein glänzender Abend mit lauten und leisen Gesprächen, viel Gelächter und etlichen Bekundungen, sich bald wieder zu treffen. Wir alle atmeten die Hoffnung, dass man die Angst vor der Pandemie endlich ablegen könne.

Doch dann stiegen die Zahlen wieder, sie schossen geradezu in die Höhe. Es war beunruhigend, Nachtrichten zu gucken. Der Staat reagierte prompt. Die Kita meiner Tochter wurde geschlossen, der Sportkomplex ebenso. Ich konnte Doktor Latif nicht mehr sehen. Und meine Frau war gezwungen, alle Events, die mit ihrem Roman zu tun hatten, abzusagen. An Wochenenden wurde eine Ausgangssperre verhängt.

Ich musste wiederholt daran denken, wie ich einmal mit dem Auto an einer heruntergelassenen Bahnschranke irgendwo in Rajasthan gewartet hatte. Während der Zug durchfuhr, kamen mehr und mehr Fahrzeuge auf beiden Seiten der Schranke zum Stillstand. Irgendwann wurden die ersten Fahrer*innen zu ungeduldig, also begannen sie, nicht mehr nur auf der linken Seite zu stehen, sondern fuhren auf der rechten Seite bis zur Schranke. Rikschas, Lastkraftwagen, Kleintransporter, Autos. Als die Schranke hochging, war die Erwartung auf beiden Seiten groß, endlich wieder Gas geben zu können. Nur befanden sich nun alle in einer verzwickten Lage. Nichts ging mehr vor oder zurück. Es dauerte lange, sehr lange, bis sich der Knoten auflöste.

War es das, was nun in Indien passiert war? Waren wir alle zu erpicht darauf gewesen, endlich wieder Fahrt aufzunehmen, sodass sich nun gar nichts mehr bewegte?

Nichts ging mehr

Die Stadt schien tatsächlich stillzustehen. An diesen Wochenenden versuchten meine Frau und ich händeringend, unsere kleinen Kinder davon abzulenken, dass sie nicht einmal für eine kurze Runde mit dem Laufrad vor die Tür durften. Es ist wenig überraschend, dass Kinder nichts von Stillstand halten. Sie litten am meisten darunter. Wenn ich aus dem Fenster blickte, sah ich keine Menschenseele. Das habe ich in den vergangenen elf Jahren keinmal erlebt. Niemand klingelte mehr. Selbst die Papageien schienen reservierter zu schreien (was vermutlich an der Januarkälte lag). Zudem fing sich meine Familie trotz aller Vorsichtsmaßnahmen Corona ein. Zum Glück wurde niemand ernsthaft krank. Aber wir alle waren doch ans Bett gefesselt. Mehr Stillstand ging nicht.

Erst mit den steigenden Temperaturen entspannte sich die Lage. Es war wieder möglich, das Haus zu verlassen. Die Kinder waren sehr, sehr dankbar. Wir Erwachsenen waren es auch. Dieses erneute Erwachen aus dem Stillstand war zögerlicher, vorsichtiger. Wir trauten ihm zunächst nicht. Ich habe das Gefühl, ein Teil von uns wird ihm noch lange nicht trauen.

Einer unserer ersten Ausflüge führte uns in die Lodi-Gärten. Es war eine Pracht. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Meine Töchter tobten über den Rasen und fütterten Schwäne und erfreuten sich an jeder Kleinigkeit. Erwachsene spielten Badminton miteinander, Kinder Cricket. Es wurde Zuckerwatte gegessen und süßer Tee getrunken. Viele Familien saßen im Schatten der antiken Ruinen beisammen. In der Luft hing bronzenes Sonnenlicht, wie man es nur in Indien findet. So viel Leben umgab uns. Die Stadt war wieder erwacht.

 


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