Märchen aus aller Welt

Lappi und Loppi (Estland)

colourbox.com Es lebte einmal ein armer Kätner mit seiner Frau in einer einsamen Hütte abseits vom Dorfe. Der Mann hieß Loppi und das Weib Lappi. Es schien, als wären die beiden zum Unglück geboren, denn es wollte ihnen gar nichts gelingen. Gott hatte ihnen in den früheren Jahren ihrer Ehe auch Kinder geschenkt, es war aber keines derselben leben geblieben, das den Eltern eine Stütze im Alter hätte sein können.

Wie zwei dürre Baumstümpfe saßen Mann und Frau alle Abend auf der Ofenbank, und da lief ihnen oft ohne Grund die Galle über und es gab Zank. Wie bekannt, sucht der Mensch im Verdruss meist die eigene Schuld auf den Nächsten zu wälzen und oft auch da, wo menschliche Bosheit nicht im Spiel war, dennoch anderen Menschen die Ursache des Unglücks aufzubürden. So konnte man nicht selten den Loppi im Ärger sagen hören: „Hätte ich nur das Glück gehabt, eine bessere Frau zu bekommen, was hätte mir da gefehlt, ich könnte heute ein reicher Mann sein.“

Aber Lappi hatte eine beflügeltere Zunge, die gegen ein Wort des Mannes gleich Dutzende bereit hatte. Wenn also der Mann Worte wie die angeführten wieder vorbringen wollte, so kam er nicht weit über den Anfang hinaus, vielmehr belferte Lappi flugs dagegen: „Da seh' einer den Lumpenkerl! Wenn ich in meiner kindsmäßigen Einfalt keinen besseren Mann zu wählen wusste, so ist das freilich zum Teil meine Schuld, aber ich glaube auch sicherlich, dass nur Hexenkünste im Stande waren, mich zu betören, und der Teufel mag wissen, was du mir heimlich ins Essen oder Trinken getan hast, bis mein Sinn sich dir zuwandte. An Freiern hat es mir nicht gefehlt, und wärst du abgerissener Gesell mir nicht zum Unglück in den Wurf gekommen, so könnte ich heute als Dame am gedeckten Tisch sitzen. Um dich nichtsnutzigen Menschen muss ich jetzt Hunger und Kummer leiden, bis der Tod mich erlöst. Dass alle unsere Kinder gestorben sind, daran bist du auch schuld, da du weder für Weib noch für Kind zu sorgen wusstest“, und so floss der einmal losgelassene Redestrom noch lange weiter ...

So saß eines Abends das Ehepaar der Hütte wieder zankend auf der Ofenbank, als eine stattliche Frau eintrat und durch ihr Erscheinen des Weibes Zungenwerk plötzlich zum Stehen und des Mannes gehobenen Arm zum Sinken brachte. Nachdem sie freundlich gegrüßt, sagte die Fremde: „Ihr seid arme Schlucker und habt bis heute viel Not zu leiden gehabt; aber nach drei Tagen wird alle Not mit einem Male aufhören; darum haltet Frieden im Hause und sagt selber, was für ein Los ihr euch als das beste wünschen wollt. Ich bin nicht, was ich euch scheine, ein menschliches, sondern ein höheres Wesen, das die Wünsche der Menschen vermöge göttlicher Kraft in Erfüllung gehen lassen kann. Drei Tage habt ihr Zeit zu überlegen und drei Wünsche dürft ihr aussprechen, hinsichtlich der Lage oder der guten Gabe, die ihr begehrt. Dann sprecht eure Wünsche nur aus, sie werden sich in demselben Augenblick durch geheime Kraft verwirklichen. Aber seid gescheit, dass ihr euch nicht etwa unnütze Dinge herbeiwünschet.“

Nach diesen Worten grüßte die stattliche Frau abermals und war wie der Blitz zur Tür hinaus. Loppi und Lappi, welche ihren Zank vergessen hatten, starrten jetzt sprachlos auf die Tür, zu der die Wundererscheinung hereingekommen und durch die sie wieder verschwunden war; endlich sagte der Mann: „Legen wir uns zur Ruhe; wir haben drei Tage Zeit zu überlegen, und wollen sie weislich anwenden, damit wir uns das allerbeste Glückslos wünschen mögen.“ Obgleich ihnen drei Tage Bedenkzeit vergönnt waren, so verbrachten sie doch schon über die Hälfte derselben Nacht unter der Last der Gedanken und überlegten, welcher Wunsch wohl der allerbeste wäre. O, was für ein köstlicher Friede jetzt drei Tage ununterbrochen in der Hütte wohnte! Loppi und Lappi waren andere Menschen geworden, sprachen freundlich mit einander und suchten einander an den Augen abzusehen, was Jegliches verlangte.

Den größten Teil des Tages saßen beide stumm im Winkel und überlegten, was sie wünschen sollten. Am dritten Tag, nach Tisch, ging Loppi ins Dorf, wo den Morgen ein Schwein geschlachtet war und der Wurstkessel gerade auf dem Feuer stehen musste. Er nahm von zu Hause den Butternapf samt Deckel und wollte des Nachbars Frau um etwas Wurstwasser bitten, abends seinen Kohl darin zu kochen. Loppi dachte, wenn der Magen mit guter Speise gefüllt ist, so kommen dem Menschen gleich bessere Gedanken. Als er wieder heim kam, stellte er den Kohl aufs Feuer, damit die Speise zu rechter Zeit auf den Tisch käme.

Als nun die Abendstunde und mit ihr die Zeit herangekommen war, die Wünsche kund zu tun, dampfte die Schüssel mit Kohlsuppe auf dem Tisch, und Mann und Frau setzten sich zum Essen – zugleich sollten sie nun auch ihre Wünsche sich vollziehen lassen. Sie hatten schon manchen Löffel von dem schmackhaften Süppchen hinuntergebracht, da sagte Lappi vergnügt: „Gott sei gedankt für das schöne Süppchen, davon kann der Mensch schon satt werden; aber noch viel besser würde die Suppe schmecken, wenn nur auch eine Wurst dabei wäre!“ – Bums! fiel von der Zimmerdecke eine große Wurst mitten auf den Tisch. Mann und Frau waren ein Weilchen über das Geschenk so erschrocken, dass es ihnen nicht einfiel, sich der Wurst sofort zu bemächtigen.

Loppi merkte, dass mit der Wurst der erste Wunsch in Erfüllung gegangen war, und das brachte ihn so auf, dass er mit vollem Munde rief: „Dass dich der Böse hole und dir die Wurst an die Nase setze! Wenn …“. Aber das arme Männlein konnte vor Schrecken nicht weiter sprechen, denn die Wurst hing der Lappi schon an der Nase; und zwar nicht mehr als wirkliche Wurst, sondern als ein mit der Nase aus einer und derselben Wurzel hervorgewachsenes Stück Fleisch. Was jetzt tun? Zwei Wünsche waren schon verpufft und der zweite hatte obendrein die Nase der Frau so verunstaltet, dass sie sich nicht getrauen konnte, den Leuten unter die Augen zu treten. Immerhin blieb noch ein Wunsch und der war noch nicht ausgesprochen: mit diesem konnten sie kluger Weise alles zum Guten wenden. Aber die arme Lappi hatte in diesem Augenblicke keinen sehnlicheren Wunsch als den, dass ihre Nase von der langen Wurst befreit würde, darum sprach sie diesen Wunsch aus und die Wurst war verschwunden. Jetzt war es mit den drei Wünschen vorbei und Loppi und Lappi mussten wieder wie früher armselig in ihrer Hütte leben. Wohl warteten sie eine Zeit lang darauf, dass die schöne Frau wiederkomme, allein die teure Fremde erschien nicht mehr. Wer ein unerwartetes Glück nicht gleich beim Schopf oder Zipfel zu fassen und festzuhalten weiß, der hat es verscherzt.

© Kreutzwald, Friedrich Reinhold: Estnische Märchen. Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses, 1869

Im Zuge der Einheitlichkeit und der besseren Lesbarkeit wurden alle Übersetzungen der internationalen Märchen an die neue Rechtschreibung angepasst.