männersachen
Der Mann: Maß aller Dinge

Der männliche Blick auf die Dinge durchdringt fast alles. Für Frauen kann das schlimme Folgen haben – nicht nur wenn sie mit dem Auto in einen Unfall verwickelt sind.
Von Rebekka Endler
Als Gerte Piening, eine niederländische Studentin, 2015 nachts beim Wildpinkeln von der Polizei erwischt wurde und entschied, das Bußgeld nicht zu bezahlen, landete der Fall vor Gericht. Obwohl keine öffentliche Toilette in der Nähe gewesen war, befand der Richter die Strafe als rechtens und begründete sein Urteil damit, dass er in seiner gesamten Karriere noch nie auf eine Frau gestoßen sei, die des Wildpinkelns überführt wurde. Daraus leitete er ab, dass es keine Notwendigkeit für mehr öffentliche Toiletten für Frauen gebe. Weiter argumentierte er, dass es zwar unbequem sein möge, doch Frauen öffentliche Pissoirs „einfach mitbenutzen“ sollten. Für Pissoirs mag der Vorschlag abstrus anmuten, doch in Wirklichkeit ist es tatsächlich so, dass wir vieles einfach mitbenutzen, obwohl es uns nicht passt. Die Bandbreite dieses Phänomens ist gewaltig. Zu große Smartphones, unpassende Sportgeräte und Arbeitskleidung sind lästig und unbequem. Ausschließlich an Cis-Männern getestete Medikamente, medizinische Diagnosen und auf sie ausgerichtetes Fahrzeugdesign oder Schutzkleidung können lebensbedrohlich für alle anderen sein. Und so erzählen die Dinge, die uns umgeben, immer auch etwas über vorherrschende Machtverhältnisse und soziale Teilhabe.
Ein paar Dinge vorweg: 1. Neutrales Design gibt es nicht. Alles Gestaltete ist von einer Person gemacht, die ihre Ideen darüber, wer sie selbst ist und für wen etwas ist, darin hat einfließen lassen. 2. Das Konzept der Zweiteilung der Geschlechter, also Frau und Mann, ist eine gesellschaftliche Konstruktion. Mittlerweile wissen wir, dass Geschlecht auch in der Biologie als ein Kontinuum zu begreifen ist. 3. Wenn die Studienlage so klar ist, warum haben wir dann überall noch Binarität? Weil sie ein Unterdrückungsinstrument des Patriarchats ist. Es sind praktische Schubladen mit einer klaren Attributverteilung und unterschiedlichen Wertigkeiten. 4. Und daraus folgt, dass trans*, inter* und nonbinäre Personen, die sich nicht in diese binären Schubladen einordnen lassen, als Gefahr wahrgenommen werden, da durch ihre Existenz die Ordnung des ganzen Systems infrage gestellt wird. 5. So lässt sich auch die gegenwärtige Kampagne gegen trans* Menschen als zielgerichtete Moralpanik verstehen, die es darauf anlegt, diese Personen als Gefahr für wahlweise Frauen, Kinder, die göttliche oder zivile Ordnung zu verunglimpfen. Auch das ist nichts anderes als ein Akt patriarchaler Gewalt. Wo kämen wir denn hin, wenn Menschen selbstbestimmt leben dürften?
Starre Kategorien sind also dienlich, denn so lassen sich die Vorstellungen darüber, wie Frauen und Männer im Patriarchat zu sein haben, in der Gestaltung unserer Umwelt überall verfestigen. Manchmal ist diese Einteilung gut sichtbar wie in den Regalen der Drogeriemärkte, in denen die meisten Pflegeprodukte sowohl optisch als auch geruchlich klar gegenderte Zielgruppen vorgeben. Ähnlich sieht es in Bekleidungs- und Spielzeugabteilungen aus. Obwohl sich die binäre Einteilung an diesen Stellen historisch erklären lässt, sind wir hier dennoch im Bereich des völlig sinnlos gegenderten Marketings von Dingen. Besonders deutlich wird dies, je grotesker die Vorstellungen davon sind, wer da die Konsumentin sein soll. Der BIC-Kugelschreiber für sie beispielsweise, „speziell für die Anforderungen der weiblichen Handschrift“, natürlich in Pink und Lila mit Glitzer und einer großen gummierten Fläche, die unsere zarten Finger schont, da sie bei der Benutzung des klassischen Hartplastik-BICs zu sehr in Mitleidenschaft gezogen werden würden. Das Problem ist nicht der Stift an sich, sondern vielmehr die irrigen Annahmen über die zarte Extrawurst Frau, die der Produktidee zugrunde liegen. Die Extrawurstisierung der Frau ist noch nicht einmal eine rein metaphorische – es gibt Würste für sie, Geflügel natürlich, zart und dezent im Geschmack. Egal, ob Wurst, Kugelschreiber oder, hier noch ein Beispiel, das wir alle kennen, Überraschungsei – überall ist das klassische Objekt unausgesprochen das männliche.
Es gibt Würste für sie, Geflügel natürlich, zart und dezent im Geschmack.
Wimpern und rote Lippen schreien FRAU, FRAU, FRAU
Das generische Maskulinum ist also nicht bloß ein Teil unseres Sprachgebrauchs, es erstreckt sich weit über die Benutzung von gegenderten Wortendungen hinaus. Denken Sie nur einmal daran, wie wir gelernt haben, zweifelsfrei zu erkennen, welches M&M in der Werbung das weibliche sein soll? Oder wer in der heteronormativen Werberomanze zwischen einem Glas Milch und einem Schokoriegel die Frau und wer der Mann sein soll? Das wissen wir nur, weil Accessoires wie hochhackige Schuhe, lange Wimpern und rote Lippen laut FRAU, FRAU, FRAU schreien. Konstruierte Weiblichkeit aus stereotypen Accessoires ist eine kulturelle Abkürzung, um unmissverständlich klarzumachen, dass es sich bei etwas oder jemandem um eine Frau handeln soll, während kein Accessoire, die Essenz des reinen Wesens, der Archetyp Mann ist. Das gleiche Phänomen, nur als Dekonstruktion von Weiblichkeit, findet sich auch bei dem Klassiker der soziologischen Gender-Experimente, dem „Draw-a-Scientist“-Test. Kinder aus englischsprachigen Ländern werden seit mehr als 50 Jahren aufgefordert, eine Person aus der Wissenschaft zu zeichnen. Der Großteil der Bilder zeigt Männer in Kitteln, aber wenn eine Wissenschaftlerin gezeichnet wurde (meistens von Mädchen), dann hat diese, im Gegensatz zu den männlichen Kollegen, Requisiten dabei. Bücher, Brille oder Reagenzgläser werden als notwendig erachtet, damit sie zweifelsfrei, trotz ihres Geschlechts, als Wissenschaftlerin zu erkennen ist.Frau am Steuer – gefährdet
Um zu verstehen, warum im Jahr 2022 männlich immer noch die Norm ist, ist der Gender-Data-Gap ein wichtiges Puzzleteil. Diesen Begriff hat die Journalistin und Autorin des Buches „Unsichtbare Frauen“, Caroline Criado-Perez, geprägt. Er beschreibt, dass es bis heute eine klaffende Wissenslücke in der Forschung gibt, wenn es um Frauen geht. Kurz: Über Jahrzehnte, teilweise Jahrhunderte wurden androzentrische Daten erhoben und unsere Umwelt auf Grundlage dieser Daten gestaltet. Das gilt für die Arbeitswelt wie für den Sport, die westliche Medizin, das Internet, kurz: für alle Bereiche. Kein Lebensbereich ist davon ausgenommen, und Prognosen gehen davon aus, dass es Jahrzehnte dauern wird, diese Lücke mit Forschung zu schließen, auch weil das Interesse daran immer noch gering ist.Ein Beispiel: Jahrzehntelang wurden Unfalldaten nicht nach Geschlecht erhoben. Das hatte für die Autoindustrie den praktischen Effekt, dass aus einer unbekannten Datenlage auch keine Handlungsaufforderung folgt. Erst seit etwas mehr als zehn Jahren gibt es Studien, die das Geschlecht der verunfallten Person berücksichtigen und die Erstaunliches feststellen: Wenn Faktoren wie Größe, Gewicht, Gurtanlegeverhalten sowie Fahrzeugtypus und Crashintensität kontrolliert werden, ist die Wahrscheinlichkeit, bei einem Unfall schwere Verletzungen davonzutragen, für eine Cis-Fahrerin um 47 Prozent höher als für einen Cis-Fahrer. Bei leichten Verletzungen ist das Risiko sogar um 71 Prozent höher (2011). Eine andere Studie (2013) rechnete aus, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Cis-Frau, die in einen Autounfall verwickelt ist, stirbt, um 17 Prozent höher ist als für einen Cis-Mann. Neuere Studien mit neueren Automodellen – wie etwa eine von 2019 – haben ausgerechnet, dass das Risiko für leichte bis schwere Verletzungen bei Cis-Frauen sogar noch höher ist als der Wert von 2011. In vier der fünf Crashtests, die die EU für die Neuzulassung von Pkw vorschreibt, werden weiterhin nur Dummys verwendet, die einem 1,75 Meter großen und 75 Kilogramm schweren Cis-Mann entsprechen, für den die Standardsitzposition hinterm Steuer ideal ist. Im fünften Crash wird ein kleinerer Dummy auf der Beifahrerseite getestet, jedoch entspricht dieser schlicht der Körperbeschaffenheit eines kleineren Cis-Mannes, nicht etwa der einer durchschnittlichen Cis-Frau. Obwohl diese Studien öffentlich zugänglich sind, resultiert daraus weder eine schnelle Korrektur des Versäumnisses seitens der Verantwortlichen noch ein erhöhter politischer Druck, dies zu tun.
Wir müssen von dieser männlichen Nabelschau weg!
Warum ist das so? Um das zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf das, was passiert, wenn eine Person – eine Frau – öffentlich anprangert, dass etwas nicht passt. „Vize-Bürgermeisterin will Crash-Test-Dummys gendern. (…) Geht es nach den Grünen, wird in Zukunft nicht nur die deutsche Sprache ‚durchgegendert‘“, schrieb die Bild-Zeitung, nachdem die Hamburger Gleichstellungssenatorin und Grünenpolitikerin Katharina Fegebank im Herbst 2021 darauf hinwies, dass in puncto Fahrzeugsicherheit Nachholbedarf herrsche. Es folgte eine misogyne Hetzkampagne, abseits jeglicher inhaltlichen Auseinandersetzung. Anstatt einen Blick auf die unabhängigen Studien zum Thema zu werfen, befragte die Redaktion einen Automobilhersteller, der versicherte, dass Frauen selbstverständlich mitgedacht würden. Beigefügte Belege: keine. Natürlich erging es nicht nur Fegebank so. Auch die Existenz meines Buches wurde beispielsweise im Mai 2022 in der Süddeutschen Zeitung zum Anlass genommen, den Titel, das „Patriarchat der Dinge“, zum „Kampfbegriff“ zu erklären, unter dem „eifrige Aktivisten Belege für tiefen, gesellschaftlich verankerten Sexismus“ sammeln. Die vom Autor handverlesenen Beispiele sind mangelnde Hosentaschen in Frauenklamotten und zu niedrig eingestellte Temperaturen in öffentlichen Büros. „Symptome des Bösen“ und „Extrembeispiele, über die verblüffend viele Menschen ernsthaft diskutiert haben“, heißt es im Text.
Es ist auch wirklich einfach, anhand dieser nicht existenziellen Exempel das ganze Thema des patriarchalen Designs zur Farce zu erklären, anstatt sich mit systematischer und struktureller Benachteiligung zu befassen. Was wir hier haben, sind Männer, Journalisten, die aus einer Position der vermeintlichen Neutralität heraus entscheiden, was gesamtgesellschaftlich als übersensibel und lächerlich gelten soll. Denn, wie der Kulturanthropologe David Graeber in seinem Buch „Bürokratie: Die Utopie der Regeln“ 2017 treffend bemerkte: „Von Frauen wird überall erwartet, dass sie sich ständig hineinversetzen, wie die Situation aus männlicher Sicht aussehen würde. Von Männern wird fast nie erwartet, dass sie das Gleiche für Frauen tun. Dieses Verhaltensmuster ist so tief verinnerlicht, dass viele Männer allein auf den Vorschlag, es könnte eine andere Perspektive als ihre eigene geben, reagieren, als wäre dies bereits ein Akt der Gewalt.“
Die Lösung lautet: Wir müssen von dieser männlichen Nabelschau weg! Erst wenn Perspektiven anderer Geschlechter nicht als Bedrohung, sondern als Einladung verstanden werden, patriarchale Strukturen zu überwinden, kann etwas passieren. Schließlich haben wir eine Welt verdient, in der wir nicht Pissoirs „einfach mitbenutzen“ müssen, eine Welt, die sich um uns alle dreht und nicht ausschließlich um die cis-männliche Achse. Denn die ist einfach nicht normal.