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männersachen
Der Mann: Maß aller Dinge

Crashtest-Dummy auf Liegestuhl
Foto (Detail): Robert Daly © Getty Images

Der männliche Blick auf die Dinge durchdringt fast alles. Für Frauen kann das schlimme Folgen haben – nicht nur wenn sie mit dem Auto in einen Unfall verwickelt sind.
 

Von Rebekka Endler

Als Gerte Piening, eine niederländische Studentin, 2015 nachts beim Wildpinkeln von der Polizei erwischt wurde und entschied, das Bußgeld nicht zu bezahlen, landete der Fall vor Gericht. Obwohl keine öffentliche Toilette in der Nähe gewesen war, befand der Richter die Strafe als rech­tens und begründete sein Urteil damit, dass er in seiner ge­samten Karriere noch nie auf eine Frau gestoßen sei, die des Wildpinkelns überführt wurde. Daraus leitete er ab, dass es keine Notwendigkeit für mehr öffentliche Toiletten für Frau­en gebe. Weiter argumentierte er, dass es zwar unbequem sein möge, doch Frauen öffentliche Pissoirs „einfach mit­benutzen“ sollten. Für Pissoirs mag der Vorschlag abstrus anmuten, doch in Wirklichkeit ist es tatsächlich so, dass wir vieles einfach mitbenutzen, obwohl es uns nicht passt. Die Bandbreite dieses Phänomens ist gewaltig. Zu große Smart­phones, unpassende Sportgeräte und Arbeitskleidung sind lästig und unbequem. Ausschließlich an Cis-Männern ge­testete Medikamente, medizinische Diagnosen und auf sie ausgerichtetes Fahrzeugdesign oder Schutzkleidung können lebensbedrohlich für alle anderen sein. Und so erzählen die Dinge, die uns umgeben, immer auch etwas über vorherr­schende Machtverhältnisse und soziale Teilhabe.

Ein paar Dinge vorweg: 1. Neutrales Design gibt es nicht. Alles Gestaltete ist von einer Person gemacht, die ihre Ideen darüber, wer sie selbst ist und für wen etwas ist, darin hat einfließen lassen. 2. Das Konzept der Zweiteilung der Geschlechter, also Frau und Mann, ist eine gesellschaftliche Konstruktion. Mittlerweile wissen wir, dass Geschlecht auch in der Biologie als ein Kontinuum zu begreifen ist. 3. Wenn die Studienlage so klar ist, warum haben wir dann überall noch Binarität? Weil sie ein Unterdrückungsinstru­ment des Patriarchats ist. Es sind praktische Schubladen mit einer klaren Attributverteilung und unterschiedlichen Wertigkeiten. 4. Und daraus folgt, dass trans*, inter* und nonbinäre Personen, die sich nicht in diese binären Schub­laden einordnen lassen, als Gefahr wahrgenommen werden, da durch ihre Existenz die Ordnung des ganzen Systems infrage gestellt wird. 5. So lässt sich auch die gegenwärtige Kampagne gegen trans* Menschen als zielgerichtete Moral­panik verstehen, die es darauf anlegt, diese Personen als Ge­fahr für wahlweise Frauen, Kinder, die göttliche oder zivile Ordnung zu verunglimpfen. Auch das ist nichts anderes als ein Akt patriarchaler Gewalt. Wo kämen wir denn hin, wenn Menschen selbstbestimmt leben dürften?

Starre Kategorien sind also dienlich, denn so lassen sich die Vorstellungen darüber, wie Frauen und Männer im Pa­triarchat zu sein haben, in der Gestaltung unserer Umwelt überall verfestigen. Manchmal ist diese Einteilung gut sicht­bar wie in den Regalen der Drogeriemärkte, in denen die meisten Pflegeprodukte sowohl optisch als auch geruchlich klar gegenderte Zielgruppen vorgeben. Ähnlich sieht es in Bekleidungs- und Spielzeugabteilungen aus. Obwohl sich die binäre Einteilung an diesen Stellen historisch erklären lässt, sind wir hier dennoch im Bereich des völlig sinnlos ge­genderten Marketings von Dingen. Besonders deutlich wird dies, je grotesker die Vorstellungen davon sind, wer da die Konsumentin sein soll. Der BIC-Kugelschreiber für sie bei­spielsweise, „speziell für die Anforderungen der weiblichen Handschrift“, natürlich in Pink und Lila mit Glitzer und einer großen gummierten Fläche, die unsere zarten Finger schont, da sie bei der Benutzung des klassischen Hartplastik-BICs zu sehr in Mitleidenschaft gezogen werden würden. Das Problem ist nicht der Stift an sich, sondern vielmehr die irrigen Annahmen über die zarte Extrawurst Frau, die der Produkt­idee zugrunde liegen. Die Extrawurstisierung der Frau ist noch nicht einmal eine rein metaphorische – es gibt Würste für sie, Geflügel natürlich, zart und dezent im Geschmack. Egal, ob Wurst, Kugelschreiber oder, hier noch ein Beispiel, das wir alle kennen, Überraschungsei – überall ist das klassi­sche Objekt unausgesprochen das männliche.

Es gibt Würste für sie, Geflügel natürlich, zart und dezent im Geschmack.

  Hand mit Hotdog Foto: French Anderson Ltd © Stocksy Das gegenderte Verhältnis zwischen Norm und Abwei­chung hat die schwedische Produktdesignerin Karin Ehrn­berger 2004 in einem Experiment gezeigt. Sie entwarf eine Bohrmaschine und einen Stabmixer. Die weiß-hellblaue Bohrmaschine war einem Delfin nachempfunden, sie hatte eine fließende Form ohne scharfe Kanten und eine glatte Oberfläche. In geschwungener Schrift stand seitlich Dol­phia. Das kleine Gerät verfügte über einen einzigen Schalter, der drei Funktionen anzeigte. Der Stabmixer Mega Hurricane hingegen war matt, olivgrün und schwarz mit neon­orangenen Sicherheitsknöpfen. Er verfügte über 27 Gänge, ein LED-Display und ein Arsenal an Aufsätzen und Klingen. Beide Geräte zeigte Ehrnberger unkommentiert Proband*in­nen und sammelte ihre Reaktionen und Assoziationen zur Optik. Ungeachtet ihres Geschlechts waren sich die Men­schen einig, die Bohrmaschine sähe „schwach“ und „min­derwertig“ aus und sei daher ein Gerät „für Frauen“. Den Stabmixer hingegen fanden die Leute „professionell“ und „kraftvoll“. Die Zuordnung „für Männer“ blieb unerwähnt und verdeutlicht, wie sehr unser Selbstverständnis der ste­reotypen männlichen Codierung implizit und normal ist.

Wimpern und rote Lippen schreien FRAU, FRAU, FRAU

Das generische Maskulinum ist also nicht bloß ein Teil unseres Sprachgebrauchs, es erstreckt sich weit über die Benutzung von gegenderten Wortendungen hinaus. Denken Sie nur einmal daran, wie wir gelernt haben, zweifelsfrei zu erkennen, welches M&M in der Werbung das weibliche sein soll? Oder wer in der heteronormativen Werberoman­ze zwischen einem Glas Milch und einem Schokoriegel die Frau und wer der Mann sein soll? Das wissen wir nur, weil Accessoires wie hochhackige Schuhe, lange Wimpern und rote Lippen laut FRAU, FRAU, FRAU schreien. Konstru­ierte Weiblichkeit aus stereotypen Accessoires ist eine kul­turelle Abkürzung, um unmissverständlich klarzumachen, dass es sich bei etwas oder jemandem um eine Frau handeln soll, während kein Accessoire, die Essenz des reinen We­sens, der Archetyp Mann ist. Das gleiche Phänomen, nur als Dekonstruktion von Weiblichkeit, findet sich auch bei dem Klassiker der soziologischen Gender-Experimente, dem „Draw-a-Scientist“-Test. Kinder aus englischsprachi­gen Ländern werden seit mehr als 50 Jahren aufgefordert, eine Person aus der Wissenschaft zu zeichnen. Der Groß­teil der Bilder zeigt Männer in Kitteln, aber wenn eine Wis­senschaftlerin gezeichnet wurde (meistens von Mädchen), dann hat diese, im Gegensatz zu den männlichen Kollegen, Requisiten dabei. Bücher, Brille oder Reagenzgläser werden als notwendig erachtet, damit sie zweifelsfrei, trotz ihres Geschlechts, als Wissenschaftlerin zu erkennen ist.

Frau am Steuer – gefährdet

Um zu verstehen, warum im Jahr 2022 männlich immer noch die Norm ist, ist der Gender-Data-Gap ein wichtiges Puzzleteil. Diesen Begriff hat die Journalistin und Autorin des Buches „Unsichtbare Frauen“, Caroline Criado-Perez, geprägt. Er beschreibt, dass es bis heute eine klaffende Wissenslücke in der Forschung gibt, wenn es um Frauen geht. Kurz: Über Jahrzehnte, teilweise Jahrhunderte wur­den androzentrische Daten erhoben und unsere Umwelt auf Grundlage dieser Daten gestaltet. Das gilt für die Arbeits­welt wie für den Sport, die westliche Medizin, das Internet, kurz: für alle Bereiche. Kein Lebensbereich ist davon aus­genommen, und Prognosen gehen davon aus, dass es Jahr­zehnte dauern wird, diese Lücke mit Forschung zu schlie­ßen, auch weil das Interesse daran immer noch gering ist.

Ein Beispiel: Jahrzehntelang wurden Unfalldaten nicht nach Geschlecht erhoben. Das hatte für die Autoindustrie den praktischen Effekt, dass aus einer unbekannten Datenla­ge auch keine Handlungsaufforderung folgt. Erst seit etwas mehr als zehn Jahren gibt es Studien, die das Geschlecht der verunfallten Person berücksichtigen und die Erstaunliches feststellen: Wenn Faktoren wie Größe, Gewicht, Gurtanle­geverhalten sowie Fahrzeugtypus und Crashintensität kont­rolliert werden, ist die Wahrscheinlichkeit, bei einem Unfall schwere Verletzungen davonzutragen, für eine Cis-Fahrerin um 47 Prozent höher als für einen Cis-Fahrer. Bei leichten Verletzungen ist das Risiko sogar um 71 Prozent höher (2011). Eine andere Studie (2013) rechnete aus, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Cis-Frau, die in einen Auto­unfall verwickelt ist, stirbt, um 17 Prozent höher ist als für einen Cis-Mann. Neuere Studien mit neueren Automodel­len – wie etwa eine von 2019 – haben ausgerechnet, dass das Risiko für leichte bis schwere Verletzungen bei Cis-Frau­en sogar noch höher ist als der Wert von 2011. In vier der fünf Crashtests, die die EU für die Neuzulassung von Pkw vorschreibt, werden weiterhin nur Dummys verwendet, die einem 1,75 Meter großen und 75 Kilogramm schweren Cis-Mann entsprechen, für den die Standardsitzposition hinterm Steuer ideal ist. Im fünften Crash wird ein kleinerer Dum­my auf der Beifahrerseite getestet, jedoch entspricht dieser schlicht der Körperbeschaffenheit eines kleineren Cis-Man­nes, nicht etwa der einer durchschnittlichen Cis-Frau. Ob­wohl diese Studien öffentlich zugänglich sind, resultiert dar­aus weder eine schnelle Korrektur des Versäumnisses seitens der Verantwortlichen noch ein erhöhter politischer Druck, dies zu tun.

Wir müssen von dieser männlichen Nabelschau weg!



pinkfarbene Waffe Foto: Yaroslav Danylchenko © Stocksy Warum ist das so? Um das zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf das, was passiert, wenn eine Person – eine Frau – öffentlich anprangert, dass etwas nicht passt. „Vize-Bürger­meisterin will Crash-Test-Dummys gendern. (…) Geht es nach den Grünen, wird in Zukunft nicht nur die deutsche Sprache ‚durchgegendert‘“, schrieb die Bild-Zeitung, nach­dem die Hamburger Gleichstellungssenatorin und Grü­nenpolitikerin Katharina Fegebank im Herbst 2021 darauf hinwies, dass in puncto Fahrzeugsicherheit Nachholbedarf herrsche. Es folgte eine misogyne Hetzkampagne, abseits jeglicher inhaltlichen Auseinandersetzung. Anstatt einen Blick auf die unabhängigen Studien zum Thema zu werfen, befragte die Redaktion einen Automobilhersteller, der ver­sicherte, dass Frauen selbstverständlich mitgedacht würden. Beigefügte Belege: keine. Natürlich erging es nicht nur Fege­bank so. Auch die Existenz meines Buches wurde beispiels­weise im Mai 2022 in der Süddeutschen Zeitung zum An­lass genommen, den Titel, das „Patriarchat der Dinge“, zum „Kampfbegriff“ zu erklären, unter dem „eifrige Aktivisten Belege für tiefen, gesellschaftlich verankerten Sexismus“ sammeln. Die vom Autor handverlesenen Beispiele sind mangelnde Hosentaschen in Frauenklamotten und zu nied­rig eingestellte Temperaturen in öffentlichen Büros. „Symp­tome des Bösen“ und „Extrembeispiele, über die verblüffend viele Menschen ernsthaft diskutiert haben“, heißt es im Text.

Es ist auch wirklich einfach, anhand dieser nicht existenzi­ellen Exempel das ganze Thema des patriarchalen Designs zur Farce zu erklären, anstatt sich mit systematischer und struktureller Benachteiligung zu befassen. Was wir hier ha­ben, sind Männer, Journalisten, die aus einer Position der vermeintlichen Neutralität heraus entscheiden, was gesamt­gesellschaftlich als übersensibel und lächerlich gelten soll. Denn, wie der Kulturanthropologe David Graeber in seinem Buch „Bürokratie: Die Utopie der Regeln“ 2017 treffend bemerkte: „Von Frauen wird überall erwartet, dass sie sich ständig hineinversetzen, wie die Situation aus männlicher Sicht aussehen würde. Von Männern wird fast nie erwartet, dass sie das Gleiche für Frauen tun. Dieses Verhaltensmus­ter ist so tief verinnerlicht, dass viele Männer allein auf den Vorschlag, es könnte eine andere Perspektive als ihre eigene geben, reagieren, als wäre dies bereits ein Akt der Gewalt.“

Die Lösung lautet: Wir müssen von dieser männlichen Nabelschau weg! Erst wenn Perspektiven anderer Geschlech­ter nicht als Bedrohung, sondern als Einladung verstanden werden, patriarchale Strukturen zu überwinden, kann etwas passieren. Schließlich haben wir eine Welt verdient, in der wir nicht Pissoirs „einfach mitbenutzen“ müssen, eine Welt, die sich um uns alle dreht und nicht ausschließlich um die cis-männliche Achse. Denn die ist einfach nicht normal.

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