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Ein Traum von Schule

Foto: © Lara SchechFoto: © Lara Schech
Während der Orientierungswoche am Anfang des ersten Schuljahres wurde uns von den älteren Schülern die Stadt gezeigt. Foto: © Lara Schech

Mit José aus Spanien betreute ich in Guangzhou Waisenkinder. Mit Tavishi aus Indien kümmerte ich mich am südchinesischen Meer um Schildkröten, die aus illegalen Zuchtanlagen befreit worden waren. Bei Peking erklomm ich zusammen mit Salma aus Kenia bei eisiger Kälte die chinesische Mauer. Und in Hong Kong besuchten wir zwei Schuljahre lang gemeinsam mit Schülern aus achtzig weiteren Ländern das Li Po Chun United World College.

Was sich für manchen vielleicht eher nach einem Abenteuerurlaub anhört, ist in Wahrheit Teil eines einzigartigen globalen Bildungskonzepts. Dabei geht es stets darum Kulturaustausch zu fördern und sich für Frieden und seine Mitmenschen zu engagieren. Die Idee der United World Colleges (UWC) stammt von dem deutschen Reformpädagogen Kurt Hahn. Er startete 1962 mit dem ersten UWC in Wales diese Bildungsbewegung, die junge Menschen aus aller Welt für die Oberstufe zusammenbringt. Diese wird abgeschlossen mit dem IB, einem weltweit anerkannten Abitur. Im Dezember 2010 bewarb ich mich für ein Stipendium der Deutschen Stiftung UWC - und wurde ausgewählt, Deutschland am Li Po Chun United World College in Hong Kong zu vertreten.

Bald sollte sich herausstellen, dass die zwei Jahre in Hongkong mit Abstand die besten meines bisherigen Schullebens sein würden. Tagtäglich konnte ich andere Kulturen hautnah erleben: Beim Frühstück mit Schülern aus Spanien und Frankreich die Euro-Krise, oder mit Einheimischen den feinen Unterschied zwischen Hongkong- und Festlandchinesen analysieren… Auf zahlreichen Kulturabenden Tänze aus aller Welt lernen… Mich in der Initiative für Frieden und einem Projekt für den Bau von Schulen in Kambodscha engagieren… Oder bei Model United Nations über Cyberwaffen oder Frauenrechte diskutieren.

Bei den so genannten Model United Nations simulieren Schüler und Studenten verschiedenster Nationalitäten die Arbeit der Vereinten Nationen (UN). Besonders diese Konferenzen wurden um ein vielfaches spannender und lebendiger, weil tatsächliche Vertreter aus den thematisierten Ländern anwesend waren: Schüler aus den Nachbarländern Malis informierten aus erster Hand, wie genau sich Flüchtlingsströme auf die umliegenden Nationen auswirkten; mein französischer Mitschüler kommentierte live die Demonstrationen um die „Homo-Ehe“ in seinem Heimatland.


Der Meinungsaustausch zwischen den Schülern ist eine der Grundsäulen des Schullebens in den UWC. Bei 240 Schülern unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft und Religion könnte man meinen, Konflikte seien vorprogrammiert. Dass dieses Miteinander aber tatsächlich funktioniert, spürte ich nicht nur bei den zahlreichen Kunstprojekten, Diskussionsabenden oder in der Pause in der Cafeteria. Jeden Donnerstagabend wurde im Global Issues Forum über ein Thema von Weltbedeutung gesprochen, zum Beispiel Prostitution, die Verantwortung der Wissenschaft oder Rechte von Homosexuellen. Interessierte Schüler fanden sich dazu im Gemeinschaftsraum zusammen und nach einer kurzen Präsentation, die das Thema vorstellte und erste Diskussionspunkte vorschlug, wurde losgelegt. Jeder hatte etwas zu sagen; wollte seine Meinung vertreten und Ideen zur Lösung des Problems beisteuern. Natürlich herrschte dabei großes Durcheinander. Aber jeder durfte zu Wort kommen und ausreden: Jede Stimme zählte. Immer.

Einmal im Jahr geht es am UWC in Hongkong auf Projektwoche nach China, Thailand, Kambodscha, Taiwan oder Malaysia. 2012 war auch Japan ein Ziel. Ich entschied mich für China, denn ich wollte mehr von dem faszinierenden Land der Mitte entdecken. In einer Mittelschule in Peking unterrichteten wir die Schüler in Englisch. Im Anschluss besuchten wir den Tempel des Himmels, eine riesige Anlage, in der sich hunderte Menschen zum Beten, Schachspielen, Kalligrafie-Üben und Ausruhen treffen. Auffallend waren die Tanzgruppen: ältere Frauen, die sich unter den Bäumen langsam zu traditioneller Musik bewegen, oder Rentnerpaare, die eine Art chinesischen Walzer und Tango auf den Asphalt legten. Einer der Herren forderte mich sogar auf und zeigte mir die Schritte. Unter dem Applaus aller Umstehenden umrundeten wir den großen Platz vier Mal, dann verbeugten wir uns voreinander. Die herzliche Offenheit der Chinesen war faszinierend.

Foto: © Lara Schech
Unsere kreativen Lernansätze haben die Kinder einer Mittelschule in Peking sofort begeistert. Das war mal etwas anderes, als immer nur die Vokabeln an der Tafel zu wiederholen. Foto: © Lara Schech

Meine Zeit am UWC hat mich in einer Art und Weise geprägt, wie es keiner meiner Schulbesuche vorher gekonnt hätte. Das merke ich besonders jetzt, da ich wieder zu Hause in Dresden bin. Ich habe nun Freunde in fast jedem Land der Welt. Meinen „Schulpaten“, der inzwischen in Harvard studiert, kann ich jederzeit bei Facebook treffen und mit Bita im Iran habe ich gleich nach meiner Ankunft zu Hause geskypt. Michael aus Prag, mit dem ich ein Jahr lang auf dem Campus in einem Wohnblock gelebt habe, hat mich bereits in Dresden besucht. Und vielleicht schaffe ich es noch vor meinem Studium in Frankreich an der Sciences Po [Institut d'études politiques de Paris, deutsch: Pariser Institut für politische Studien, Anm. d. Red.], die Einladung von Guillermo aus Sevilla anzunehmen. Es ist schön, auf der ganzen Welt Gleichgesinnte zu kennen, die sich für Frieden und Völkerverständigung engagieren wollen, um die Welt in eine positivere Zukunft zu treiben. 

In Deutschland wird die Schülerauswahl von der Deutschen Stiftung UWC getroffen (uwc.de), in Tschechien vom Nationalkomitee (uwc.cz). Weitere Informationen findet ihr auch auf Laras Blog über ihre Zeit am UWC hongkongcitygirl.com.


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Juni 2013

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