Kultur

Von Bandwürmern, Bergen und alten Griechen

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Vea Kaiser, Foto: © www.pertramer.at

Die junge Österreicherin Vea Kaiser sorgte mit ihrem Debütroman „Blasmusikpop“ für Aufsehen in der Literaturszene.

„Beiden Eheleuten lag etwas im Bauch: Elisabeth war schwanger, Johannes hatte einen Bandwurm.“ Mit einer doppelten Schwangerschaft beginnt Vea Kaisers Romandebüt Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam. Die 23-jährige Vea Kaiser erzählt darin mit viel Witz und Lust am Fabulieren vom Leben in dem kleinen Bergdorf St. Peter am Anger.

Von Herodot zu den „Bergbarbaren“

Da gibt es Seifenkisten und Berge, es geht um Fußball und Steinläuse, um die große Liebe genauso wie um das Gefühl des Fremdseins und die Frage nach Zugehörigkeit. Und es ist eine Familiengeschichte. Die beginnt 1959 mit dem bandwurmschwangeren Großvater Johannes Gerlitzen, den der Forscherdrang packt, weil er wissen will, was da in ihm herumkreucht. 50 Jahre später hat sein Enkel Johannes A. Irrwein nach einem gescheiterten Selbstmordversuch, der im Salatbeet der Mutter endet, eine Vision: „Der Vater der Geschichtsschreibung“, Herodot, beauftragt ihn, die „Bergbarbaren“ von St. Peter zu erforschen.

© Kiepenheuer & WitschHerodot von Halikarnassos, der antike griechische Geschichtsschreiber, Geograph und Völkerkundler ist nicht nur der Lieblingsautor des jungen Protagonisten, sondern gehört auch zu den großen Vorbildern von Vea Kaiser. Keine Überraschung, studiert die junge Autorin doch klassische Philologie in Wien: „Mich fasziniert seine Lust an Geschichte und Geschichten, sein breiter Blick. Herodot, der traut sich. Das ist ja nicht nur Geschichtsschreibung, manchmal schreibt er auch Sagen, Märchen und Aberglauben und Blödsinn auf“, erklärt sie.

Die Kunst des Geschichtenerzählens bewundert sie auch an ihren „drei Säulenheiligen“, wie sie sie nennt: Heimito von Doderer, Gabriel García Márquez und John Irving. Dessen Gespür für Komik und skurrile Begebenheiten kann man auch Blasmusikpop nachsagen. Etwa, wenn die Mütterrunde in Herdenformation mit klackenden Skistöcken durch St. Peter am Anger walkt und den Jungen im Salatbeet für exotisches Gemüse hält, mit dem sich seine Mutter Ilse den Sieg beim jährlichen Kochwettbewerb erschleichen will.

„Mit der Realität habe ich nichts zu tun“

Natürlich darf in einem Roman über ein österreichisches Bergdorf auch der Dialekt nicht fehlen. Den hat Vea Kaiser eigens für den Roman erfunden: „Ich wollte einen Dialekt, der als Dialekt erkennbar aber nicht regional zuzuordnen ist. Also einen Kunstdialekt. Das wirklich Lustige ist, die Leute in Österreich glauben immer, das ist ihr eigener Dialekt. Ich hab schon alles gehört von ,Ach, das ist ja wie bei uns in Oberösterreich‘ über ,Meine Schwiegermutter aus Tirol redet auch so‘ oder ,Dis is scho Wienerisch, oda?‘ Das ist echt schräg“, lacht die 24-Jährige.

In Blasmusikpop fungiert die Mundart als Indikator für gesellschaftliche Unterschiede – und Sprache wird Mittel zur Ausgrenzung, wie der aufgeweckte und wissbegierige Johannes Irrwein im engstirnigen St. Peter erfahren muss.

Beim Schreiben über dieses Dörfchen und seine Bewohner hat es sicherlich geholfen, dass Vea Kaiser selbst in der niederösterreichischen Provinz aufgewachsen ist. „Da gibt es schon Inspirationen. Ich bin aber keine Journalistin, ich hab mit der Realität eigentlich nichts zu tun. Das ist nicht mein Business. Ich merke, wenn ich versuche, irgendwas Reales reinzubringen, dann kippt es, und wird ganz schlecht“, erklärt die hochgewachsene Jungschriftstellerin mit den langen braunen Haaren.

Für sie ist St. Peter am Anger so etwas wie das österreichische Springfield aus der Serie Simpsons: Ein fiktiver Ort, der überall zwischen Bayern und Österreich liegen könnte, wo es hunderte St. Peters gibt. „Es könnte genauso gut in Niedersachsen in der Provinz spielen oder auf einer griechischen Insel. Diese kleinen Gemeinschaften funktionieren überall gleich“, erklärt die junge Autorin. St. Peter am Anger als pars pro toto, sozusagen.

Die Idee zum Roman kam der fußballbegeisterten Österreicherin beim Joggen. Das Studium „Kreatives Schreiben“ an der Universität Hildesheim – wo man mehr übers Schreiben redete, als tatsächlich zu schreiben, wie sie sagt – schmiss sie nach einem Jahr. Um endlich Geschichten zu erzählen. „Geschichtldruckerin“, so nannten die Leute sie schon im zarten Alter von vier Jahren.

Ihr Publikum, das war damals ihr jüngerer Bruder. „Sobald er aber laufen konnte, lief er einfach allen Bällen und allen Tieren hinterher und es war ihm zu blöd, dazusitzen und seiner Schwester zuzuhören. Und ich glaube, das war dann der Moment, dass ich angefangen habe, zu schreiben. Weil irgendwie das Publikum nicht mehr da war und ich das Erzählen aber ausleben musste“, erinnert sie sich.

Kafka? Ohne mich.

Mit l’art pour l’art kann Vea Kaiser wenig anfangen. Sie schreibt, um gelesen zu werden: „Den Autoren, die das Gegenteil behaupten, möchte man doch am liebsten die Bratpfanne über den Kopf ziehen. Es gibt ja diese Haltung ,Man schreibt nur für sich‘. Aber wenn ich das machen würde, dann müsste ich nicht publizieren. Ich sehe das eher über die Geschichte. Erzählen ist etwas Grundmenschliches. Seit wir erzählen, leben wir nicht mehr auf Bäumen. Ich glaube, es gibt eine große Sucht danach. Die Welt ist voller Erzählungen. Erzählungen brauchen aber auch Zuhörer“, fasst sie ihr Credo zusammen.

Zuhörer fand sie, als sie 2009 am Berliner Literaturwettbewerb „open mike“ teilnahm, und ein Lektor des renommierten Kölner Verlags Kiepenheuer & Witsch im Publikum saß. 18 Stunden später hatte sie den Vertrag für ihren ersten Roman in der Tasche.

Gerade schreibt sie bereits an ihrem zweiten – in dem auch Prag vorkommen wird, wo sie 2012 einen Monat als Stipendiatin des Literaturhauses verbracht hat: „Ich fühl mich wahnsinnig wohl hier. Ich habe das Gefühl, Prag ist die tschechische Schwester von Wien“, sagt sie.

Während ihrer Zeit an der Moldau hat sie nur Prager Autoren gelesen: Lenka Reinerová, Egon Erwin Kisch, Franz Werfel. Von Kafka allerdings hat sie nach einem abgeschlossenen Germanistikstudium die Nase voll: „Kafka ist totinterpretiert. Bevor ich in meinem Leben noch mal Kafka lese, schneide ich mir einen Zeh ab. Ich gestehe, das ist meine kleine Sünde“, verrät Vea Kaiser. 

Vea Kaiser: „Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam“, Kiepenheuer & Witsch 2012. 496 Seiten, gebunden. 19,99 Euro.

Ulli Mascher

Copyright: LandesZeitung
August 2013

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