Auf der Flucht in den Urlaub
Das belgische Seebad Ostende war Mitte der 1930er Jahre das Exil für zahlreiche deutsche und österreichische Kulturschaffende. Der sorgfältig recherchierte Tatsachenroman „Ostende. 1936 – Sommer der Freundschaft“ von Volker Weidermann lässt das Zusammentreffen einiger dieser Exilanten drei Jahre vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lebendig werden.
Es ist nicht lange her, da feierte das Buch 1913. Der Sommer des Jahrhunderts bei den tschechischen Lesern einen großen Erfolg. Die facettenreichen Beschreibungen des deutschen Kunsthistorikers Florian Illies sind wie ein Blick durch ein Kaleidoskop in das Leben von historischen Persönlichkeiten und Künstlern, der auf erfundene und nach wahren Begebenheiten rekonstruierte Ereignisse fällt. Man könnte meinen diese Publikation, von vielen als Roman bezeichnet, habe einiges gemeinsam mit dem im Vorjahr erschienenen Buch des Schriftstellers und Publizisten Volker Weidermann Ostende 1936 – Sommer der Freundschaft. Beide Publikationen wurden von Tomáš Dimter ins Tschechische übersetzt und erschienen beim Host Verlag.
Die Autoren verfolgen allerdings ihr Ziel, die Atmosphäre der vergangenen Zeit durch ein Mosaik außergewöhnlicher Schicksale einzufangen, auf unterschiedliche Weise. Illies’ Überblick folgt der Chronologie des Jahres 1913 entlang der einzelnen Monate und behält ganz Europa im Blick. Weidermann schöpft in seiner Erzählung aus dem Sommeraufenthalt mehrerer Künstler im belgischen Seebad Ostende und skizziert einige ihrer Schicksale vor und nach ihrem Zusammentreffen im Jahre 1936.
Welche Vertreter der europäischen Kulturgeschichte engagiert Weidermann eigentlich für seine Leser? An der Spitze steht ein männliches Duo, von dem ich behaupte, dass sie die Helden dieser Prosa sind: Stefan Zweig und Joseph Roth. Die überaus komplizierte, aber doch so starke Bindung zwischen diesen beiden großen Schriftstellern wird zum Hauptthema und Handlungsrahmen des Romans. Der langjährigen Freundschaft der Literaten, die vielfältige Wendepunkte erlebt, folgt Weidermann vom Kennenlernen bis zur letzten Begegnung. Der Autor bevölkert seine Prosa mit einer Anzahl weiterer interessanter Persönlichkeiten der damaligen Kulturszene.
Auf diese Weise werden die Leser zu Zeugen leidenschaftlicher Gespräche und aufgebrachter Streigtigkeiten zwischen Künstlern, Journalisten und Revolutionären – „Erzählern, die gegen den Untergang ankämpfen“ Auch der „rasende Reporter“ Egon Erwin Kisch fehlt nicht, genauso wenig wie der kommunistische Verleger Willi Münzenberg, der Journalist mit ungarischen Wurzeln Arthur Koestler, der in Prag geborene Abenteurer Otto Katz, der Schriftsteller Hermann Kesten sowie der Dramaturg und Sozialist Ernst Toller. Natürlich dürfen wir ihre Ehefrauen nicht vergessen, die Lebensgefährtinnen und Liebhaberinnen, die hier allerdings eher die zweite Geige spielen, mit einer Ausnahme: Irmgard Keun. Die stürmische und für viele unverständliche Beziehung der Schriftstellerin zu Roth begann gerade im belgischen Ostende.
„Fast zwei Jahre lang waren sie das sonderbarste Paar der Emigration gewesen, der junge Greis und die weise Weltdame, der heillose Trinker und die lebensfrohe Trinkerin, zwei Kämpfer gegen den Untergang, gegen den der Welt und bald vor allem gegen den eigenen.“ (S. 147)
Ein Sommer im Zeichen des Pflichtoptimismus
Die Beschreibung des Hauptschauplatzes ist ausgesprochen idyllisch. Eine unverhohlene Nostalgie ist dort herauszuhören, wo der Autor über das weitere Schicksal dieses malerischen Ortes schreibt. Ostende wurde während des Krieges beinahe vollständig zerstört und büßte viel von seinem früheren Zauber ein. Die Protagonisten kommen Anfang des Sommers 1936 nach Ostende mit der Absicht sich – womöglich zum letzten Mal – zu entspannen in der Gesellschaft ihrer Freunde, die alle dasselbe Los teilen, das des Exils. Die Vorkriegsereignisse halten wegen ihnen nicht ein, im Gegenteil. In Spanien bricht gerade der Bürgerkrieg aus, eine Art Generalprobe der herannahenden Katastrophe, Österreich schließt mit Nazi-Deutschland ein Abkommen, das den zwei Jahre später erfolgten Anschluss des Heimatlandes von Zweig und Roth einleitet. In Berlin erreichen die Vorbereitungen für die Olympischen Sommerspiele, die die Welt über die tatsächliche Gefährlichkeit der Nazis täuschen sollen, ihren Höhepunkt.
„Und schon sind sie wieder bei diesem Thema. Das sind in diesen Tagen die beherrschenden Nachrichten aus Berlin: die Vorbereitungen auf die Olympischen Spiele. Die ganze Welt wird zu Gast sein in der deutschen Hauptstadt. Das Regime ist schon seit Wochen dabei, sich zu verkleiden, das hässliche Gewand der Fremden- und Judenfeindlichkeit abzulegen und sich als ziviler Staat der internationalen Freundlichkeit zu präsentieren. […] Die Welt will schlafen, um in Frieden zu leben. Und die kleine Ostende-Gruppe hasst ihre Machtlosigkeit, hasst sie bis zur Verzweiflung.“ (S. 92)
Weidermann hat die Gabe, Szenen detailgetreu in satten Farben darzustellen und die eigenartige Atmosphäre zu vergegenwärtigen, in der das Leben der Künstlerbohème auf die düsteren Befürchtungen zur politischen Entwicklung trifft. Die historischen Persönlichkeiten, ob nun bis heute berühmt oder schon lange vergessen, die der Autor wieder zum Leben erweckt, werden in diesem Buch zu vollblütigen Romancharakteren, obgleich ihre Worte und Taten vom zeitgenössischen Autor beziehungsweise Erzähler oftmals mit seinem allwissenden Kommentar begleitet werden, der den Leser auf die tiefere Bedeutung und den breiteren Kontext des gerade „Gesehenen und Gehörten“ aufmerksam machen soll.
Der permanente Kontrast zwischen dem Inhalt der betreffenden Szene und der vom Erzähler antizipierten Zukunft lässt die Charaktere wiederum realistischer erscheinen, er enthüllt ihre allzu menschliche Selbsttäuschung und ihre Irrtümer. Wie der Autor seine Helden die Szene betreten lässt, erinnert die Leser daran, dass es sich hier nicht um ein Sachbuch handelt, sondern um Belletristik. So beschreibt zum Beispiel eine Passage den Geburtsort eines unbekannten Mannes, begleitet von einem Zitat dieses Mannes und einer Schilderung seiner Kindheit. Erst ganz am Schluss offenbart sich Identität des Mannes, der kein anderer ist als Joseph Roth.
Exil – für die einen die Freiheit, für die anderen der Tod
Ein wichtiges Thema in Weidermanns Roman ist das Exil und das Exilantendasein, für dessen künstlerische Abbildung und weitgreifendes Erforschen er sich wohl keinen besseren Ort als Ostende und keinen besseren Zeitraum als den Sommer 1936 hätte aussuchen können. Die von ihm eingefangene kurzzeitige Flüchtlingsgesellschaft aus Deutschland und Österreich, durch Herkunft, Religion oder sexuelle beziehungsweise politische Orientierung stigmatisiert, stellt in der Tat ein reiches und repräsentatives Material dar. Während Zweig über ausreichende Mittel verfügte und dank seines Renommees selbst in den Folgejahren seine Würde und Schaffensfreiheit bewahren konnte, hatten andere kein solches Glück und ihr Leben wie auch ihr Werk wurden geprägt von schwierigen Kompromissen und Opfern. Viele erwartete ein tragisches Ende, wie wir nicht nur am Ende des Romans erfahren (Roths Tod im Krankenbett 1939, Tollers Selbstmord im gleichen Jahr), sondern auch im kurzen Postscriptum Mystery Train, die unter anderem die zwei Tode der Irmgard Keun erwähnt und den Selbstmord Zweigs im Jahre 1942.
Der Roman Ostende 1936 – Sommer der Freundschaft fesselt die Leser mit einem außergewöhnlich interessanten Kapitel der mitteleuropäischen Kulturgeschichte. Mithilfe einiger Schicksale einzigartiger, aber doch für ihre Zeit repräsentativer Persönlichkeiten, gelingt es dem Autor die angespannte Atmosphäre der 1930er Jahre heraufzubeschwören. Weidermanns selbstsicherer Erzählstil und die Vielzahl der Kommentare zu den Geschehnissen, Personen und Fakten reflektieren die vorangegangene umfangreiche Recherche – umso mehr vermisst man ein Verzeichnis der Quellen, die der eingangs erwähnte Illies im Anhang seines Buches 1913. Der Sommer des Jahrhunderts bietet. Ein weiterer Grund für die Unzufriedenheit liegt nicht im Roman selbst, sondern und betrifft den Umstand, dass die tschechischen Verleger den Lesern die Übersetzung der zahlreichen zitierten Werke (zum Beispiel Irmgard Keuns Nach Mitternacht oder Hermann Kestens Meine Freunde die Poeten) ins Tschechische noch schuldig sind.
Übersetzung: Ria Ter-Akopow