Leben

Lesen lernen mit über fünfzig

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Gerhard Prange (56) lernt Lesen und Schreiben. Foto: © Janna Degener

In Deutschland gibt es laut der repräsentativen Level One-Studie rund 7,5 Millionen funktionale Analphabeten. Das heißt: Jeder siebte Mensch zwischen 18 und 64 Jahren kann keine zusammenhängenden Texte lesen oder schreiben. Einer von ihnen ist Gerhard Prange (56).

Zwischen den vielen Touristen, Straßenmusikern und gehetzten Geschäftsleuten am Berliner Alexanderplatz fällt Gerhard Prange kein bisschen auf. „Ich bin ein ganz normaler Typ“, erzählt er mir nach einem festen Händedruck, als ich ihn bitte, sich mir kurz vorzustellen. Sein Dialekt verrät, dass er aus Berlin kommt. Gelernt habe er nichts. Schon in der Grundschule habe er Schwierigkeiten gehabt. Die Eltern konnten nicht weiterhelfen, denn sie hatten sieben Kinder und waren selbst nicht gut im Lesen und Schreiben. Gerhard Prange kam auf die Sonderschule, wo man ihm leider auch nicht helfen konnte: „Als ich 14 oder 15 war, war mal eine Studentin da, die hat sich viel Mühe mit mir gegeben. Ich habe mich angestrengt, weil ich ein bisschen verliebt in sie war. Aber dann war sie schon nach einem halben Jahr weg und mit dem alten Lehrer hatte ich keinen Bock.“

Jahr für Jahr blieb Gerhard Prange sitzen, mit 17 verließ er die Schule dann ohne Abschluss. Er wollte Rohrleger werden, aber die Fragen in der Berufsschule waren zu schwer und er musste die Ausbildung abbrechen. Ein Grieche, den er vom Fußball kannte, bot ihm dann einen Job in seiner Reinigung an. Da blieb er zwanzig Jahre, bis das Kreuz kaputt war. Er schlug sich einige Jahre mit Gärtner- oder Malerjobs durch und arbeitet jetzt dreißig Stunden pro Woche für eine Behinderteneinrichtung. „Ich bin mit einem Kollegen in der Stadt unterwegs und wir erfassen behindertengerechte Läden, wo keine Treppen überwunden werden müssen und die Türen die richtige Größe für einen Rollstuhl haben. Ich messe das aus, denn rechnen kann ich ja. Und mein Kollege ist für’s Aufschreiben zuständig“, erklärt er.

„Ich seh‘ beim Einkaufen doch, ob da ein Fleischstück oder Rotkohl auf dem Bild ist“

Foto: © Janna Degener

Dass er nicht lesen und schreiben kann, hat Gerhard Prange jahrzehntelang kaum jemandem erzählt: „Meine Bekannten und selbst meine Ex-Frau wussten das nicht. Ich bin ja nicht dumm und ich konnte die Fußballergebnisse vorlesen oder meinen Namen schreiben. Leichte Wörter kann ich auch lesen und beim Einkaufen sehe ich ja, ob da ein Fleischstück oder Rotkohl auf dem Bild ist.“ Heiklen Situationen sei er aus dem Weg gegangen und zum Beispiel bei Ämtern habe er die „normalen Tricks“ draufgehabt: „‚Brille vergessen‘, ‚keine Zeit‘ oder so. Da bin ich Profi.“ Nur sein Schwager habe ihm manchmal geholfen, wenn er zum Beispiel einen Antrag ausfüllen musste. Und bei der Reinigungsfirma ist Gerhard Prange irgendwann dann doch mal aufgeflogen: „Einmal sollte ich hinter die Kasse gehen, ‚Hose‘ und ‚Rock‘ konnte ich auch noch eintippen. Aber ich habe dann doch irgendwann gesagt, dass ich das nicht so gut kann. Mein Chef konnte das aber auch nicht, weil er ja Grieche war. Deshalb war das kein Problem.“

Trotzdem kam Gerhard Prange vor gut drei Jahren zu dem Entschluss, dass er noch einen Versuch machen und richtig lesen und schreiben lernen wollte. „Ich bin schon seit vielen Jahren Alkoholiker und hatte mich damals dafür entschieden, mit dem Trinken aufzuhören“, erklärt er. „Vielleicht war das einfach, weil ich älter und erfahrener geworden bin oder so. Jedenfalls wollte ich dann mal etwas Anderes machen und wieder in die Schule gehen. Wenn man keinen Alkohol trinkt, kann man ja lernen, sonst gehen die Dinge eh nicht in den Kopf“. Gerhard Prange „outete“ sich also beim Jobcenter und seine Fallmanagerin meldete ihn für einen Alphabetisierungskurs an. An den ersten Kurstag erinnert er sich noch gut: „Es war ein schönes Gefühl, wieder in die Schule zu gehen und etwas zu lernen, was man früher nicht konnte. Ich hätte früher damit anfangen sollen!“

Zähne zusammenbeißen und den inneren Schweinehund überwinden

Zweimal pro Woche besucht Gerhard Prange seitdem den Alphabetisierungskurs, für eineinhalb Stunden nachmittags nach der Arbeit. Gemeinsam mit einer Handvoll weiteren Teilnehmern lernt er hier, besser zu lesen und auch zu schreiben: Die Lehrerin habe ihm eine Liste mit Buchstaben gegeben und er übe, die beim Lesen zusammenzuziehen. Das falle ihm zwar schwer, aber da müsse er durch. Meist geht Gerhard Prange gerne zur Schule, aber manchmal muss er nach der Arbeit auch seinen inneren Schweinehund überwinden, um sich überhaupt auf den Weg zu machen. Der Kurs motiviert ihn, auch im Alltag dazuzulernen: „Man hört ja am Vortag die wichtigsten Nachrichten im Fernsehen und Radio, da kann man am nächsten Tag die Überschriften in den Zeitungen leichter lesen. Und ich versuche, die Namen der U-Bahn-Stationen zu lesen, aber im Vorbeifahren ist das schwierig.“ Insgesamt glaubt Gerhard Prange, dass er sich durch den Alphabetisierungskurs schon verbessert hat: „Ich bin in eine andere Klasse versetzt worden, da sind die Teilnehmer besser als ich. Ich bin also sozusagen von der ersten in die zweite Klasse gekommen. Und ich merke auch, dass ich manche leichte Wörter jetzt intensiver in meinem Kopf drin habe, das Lesen geht also schneller und besser.“

Auch die Berlinfolgen von 2470media haben Gerhard Prange ein Porträt gewidmet.

Seitdem Gerhard Prange den Alphabetisierungskurs besucht, erfahren immer mehr Menschen in seinem Umfeld, dass er ein funktionaler Analphabet ist. Ein Problem ist das für ihn aber nicht: „Ich hab nur Positives gehört, viele finden es richtig stark und meinten: ‚Hut ab, dass du in deinem Alter nochmal in die Schule gehst‘.“ Gerhard Prange hofft, dass er mit seinem Beispiel auch andere funktionale Analphabeten ermutigt, offen zu Ihrer Schwäche zu stehen und das Problem in Angriff zu nehmen: „Ich kenne viele, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben. Die Meisten schämen sich dafür.“ Für sich selbst hofft Gerhard Prange, dass er wirklich am Ball bleibt, egal wie lange es dauert. Irgendwann einmal will er seinen ersten Brief schreiben, adressiert an seine zehnjährige Tochter, die schon richtig gut lesen und schreiben kann: „Sie weiß zwar, dass ich sie ganz doll lieb habe. Aber geschrieben habe ich es ihr noch nie.“

Informationen und Angebote für Betroffene und ihre Angehörigen: Der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. bietet Betroffenen und Angehörigen kostenlos Informationen, unter anderem zu Lernkursen in ganz Deutschland.

Kontakt: Per Telefon unter 0800 – 53 33 44 55 oder im Internet unter www.alfa-telefon.de.

Janna Degener
 
Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
Dezember 2013

    Analphabetismus

    Funktionaler Analphabetismus betrifft mehr als 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. Das entspricht in Deutschland rund 7,5 Millionen Funktionalen AnalphabetInnen. Das bedeutet, dass eine Person zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben kann, nicht jedoch zusammenhängende – auch kürzere – Texte. Betroffene Personen sind nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben in angemessener Form teilzuhaben. So misslingt etwa auch bei einfachen Beschäftigungen das Lesen schriftlicher Arbeitsanweisungen.

    Analphabetismus im engeren Sinne betrifft mehr als vier Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. Davon wird gesprochen, wenn eine Person zwar einzelne Wörter lesend verstehen beziehungsweise schreiben kann – nicht jedoch ganze Sätze. Zudem müssen die betroffenen Personen auch gebräuchliche Wörter Buchstabe für Buchstabe zusammensetzen.

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