Leben

Memento mori für Prager Lebensmüde

Der Künstler Krištof Kintera erinnert an die Selbstmörder der Nusle-Brücke

Nusle-Brücke
Nusle-Brücke (Foto: Patrick Hamouz)

Vor einem liegen 500 entmutigende Meter Fußweg bis zur anderen Seite. Schwindel erregende 45 Meter darunter ein Meer von Dächern. Das Monstrum hat seine vier Stahlbetonpfeiler wie Saurier-Füße mitten in die winzigen Häuserreihen unten im Prager Nusle-Tal gestampft. In seinem Bauch rattert unsichtbar die Metro hin und her. Die Nusle-Brücke verbindet die Stadtteile Pankrác und Vinohrady. 

Viele Jahre war sie die längste Spannbetonbrücke Europas. Die Kommunisten liebten solche Rekorde. Und so benannte man die Brücke, als sie 1973 eröffnet wurde, nach Klement Gottwald, dem ersten kommunistischen Präsidenten der Tschechoslowakei - Anlass übrigens für den ersten Brücken-Witz: Genauso wie Gottwald, so verkürze auch die Brücke den Weg vieler Menschen nach Pankrác. Dort nämlich, in Pankrác, war eines der gefürchtetsten Gefängnisse des kommunistischen Regimes. In den 38 Jahren ihrer Existenz haben über 300 Menschen die Brücke betreten, sie aber nicht mehr zu Fuß verlassen. Ihr Sprung aus 40 Metern Höhe zwischen die Häuser von Nusle war todsicher.

„Aus eigenem Willen“

Nusle-Brücke
Memento mori (Foto: Patrick Hamouz)
Unter der Brücke, dort, wo die Unglücklichen ihr Ende fanden, steht seit Juni eine neue Straßenlaterne, unwirklich verdreht. Ein Schwanenhals aus Metall. Und wenn es Nacht wird, wirft sie ihr Licht eigenwillig gen Himmel. So als stünde einer jener Selbstmörder in diesem Moment auf dem Brückengeländer. Lange hatte der bekannte Prager Installationskünstler Krištof Kintera zunächst mit sich und dann mit der Prager Stadtverwaltung gerungen. Erst jetzt konnte er sein Memento mori für die Selbstmörder der Nusle-Brücke verwirklichen.

Es ist 22:30 Uhr und trotz Sommerzeit schon stockdunkel. Als Kristof Kintera sich der Laterne unter der Nusle-Brücke nähert, ist er in der Finsternis nur an seinem Hut zu erkennen. Ohne den tut er keinen Schritt. Kintera wühlt in seiner Hosentasche, fischt ein Handy heraus. Der schwache Lichtstrahl des Displays sucht den Laternenpfahl ab. „Noch nicht besprüht, kein Graffiti“, stellt er zufrieden fest. „Und hier ist die Nummer“, sagt er plötzlich. „Das ist die Registrierungsnummer für die öffentliche Beleuchtung. Die Laterne ist Teil der Stadtbeleuchtung und hat die Nummer 194143“. Kintera lacht. Es sei also eine ganz normale Laterne – fast. Denn sie scheint ja hinauf zur Brücke und weiter zu den Sternen. Anders als ihre Kolleginnen im Park Folimanka. „Am Anfang habe ich nicht geglaubt, dass es klappen wird, die Skulptur hier im öffentlichen Raum zu installieren.“

Dem zivilisatorischen Trend zuwider

Kriegerdenkmäler gibt es wie Sand am Meer. Ein Mahnmal für Selbstmörder, das ist bisher einzigartig. Sieht man einmal von der Skulptur in der Kleinstadt Aberdeen bei Seattle ab, aus der Kurt Cobain stammt. Ein Jahr Überzeugungsarbeit war notwendig gewesen, um den Stadtrat von Prag-Vinohrady umzustimmen. „Dieser Stadtteil verdient ein Lob“, sagt Kristof Kintera heute anerkennend. Noch bei der Einweihung des Memento mori, im Juni dieses Jahres, gab der Bürgermeister zu, er habe seinen Augen nicht getraut hat, als er den Antrag auf seinen Tisch bekam. Selbstmord ist ein Tabu-Thema, und die rund 300 namenlosen „Täter“ der Nusle-Brücke will man lieber vergessen.

„Die Treppen im Park sollte man reparieren und nicht das Geld für Überflüssiges rauswerfen, wo doch jetzt jede Krone gespart wird“, erklärte ein Passant in einer Reportage des Tschechischen Fernsehens. Ein Denkmal für Selbstmörder laufe dem „zivilisatorischen Trend zur Ablehnung des Selbstmordes zuwider“, stelzte in seiner Stellungnahme Stadtrat Zdeněk Lochmann von der konservativen Partei Top 09. Kritik an seiner Skulptur hat Kintera erwartet. Bei einer Äußerung wie der von Lochmann winkt er aber nur ab. „Darüber kann ich nur lachen“, sagt er ernst. Er hätte nicht die Stirn, die Tat dieser Menschen zu bewerten. Es sei ihre eigene Entscheidung gewesen – „wir dürfen uns kein Urteil erlauben.“ Aus eigener Entscheidung – so heißt auch die Skulptur. Sicher, das Thema sei kompliziert, räumt der Künstler ein. Aber er glaube an die Freiheit an sich – bis in die letzte Konsequenz. „Niemand von uns kann sich die Beweggründe der Selbstmörder wirklich vorstellen, die Ausweglosigkeit. Ich glaube daher, dass zu dieser Tat – neben dem Gefühl einer absoluten Ausweglosigkeit – auch ein schrecklicher Mut gehört.“ Von einer „Verherrlichung des Freitods“ will Krištof Kintera aber nichts hören.

Ausgestorbenes Memento

Die Straßenlaterne mit dem gen Himmel verdrehten Hals sei kein Denkmal. Der einzig passende Begriff sei eben Memento mori - Sei eindenk, dass Du sterben musst. Ein Gedanke, der dem Lebensgefühl des Mittelalters, vor allem aber des Barock entsprach. „Das ist ein Genre, das im 20. Jahrhundert so gut wie nicht vorkommt“, kaum einer befasse sich damit, klagt Künstler Kintera. „Für mich war das menschlich wichtig, mich mit dem auseinanderzusetzen, was sich hier abgespielt hat.“ Seit fast drei Jahren, seit der Zeit, als das Geländer auf der Brücke um ein unüberwindliches Gitter erhöht wurde, ist niemand mehr in den Tod gesprungen. „Wenn sich hier noch regelmäßig jemand das Leben nehmen würde, hätte ich es nicht gewagt, hier diese Skulptur zu installieren“, erklärt Krištof Kintera.

Graue Anmut

Nusle-Brücke
Nusle-Brücke (Foto: Patrick Hamouz)

Kaum jemand in Prag mag sie, die gigantische Nusle-Brücke. Und die Tatsache, dass - statistisch gesehen – jedes Jahr rund acht Menschen dort den Freitod wählten, trug nicht gerade zu einem guten Ruf bei. Trotzdem nennen die Prager sie fast liebevoll Nuselák. 66 Panzer mussten damals, im Frühjahr 1970, die Standhaftigkeit des noch unfertigen Monstrums auf die Probe stellen. Drei Jahre später wurde der Nuselák eingeweiht. Das Jahr, in dem auch Krištof Kintera das Licht der Prager Welt erblickte, gar nicht weit von der Brücke entfernt. Durch ihren Beton-Torso ratterte im 10-Minuten-Takt die Metro und schoben sich zur Hauptverkehrszeit tausende Autos über ihren Asphalt. „Der Ort bedeutet mir persönlich etwas“, sagt Kintera und streckt den Arm Richtung Pankrác aus. „Ich war dort auf der anderen Seite des Tals in der Schule und bin also selbst ziemlich oft über die Brücke gegangen oder auch darunter hinweg.“ Noch heute fährt er über die Brücke, wenn er in sein Atelier muss. „Die Brücke hat ihre ganz eigene Anmut. Und auch wenn die Menschen sie nicht mögen, so ist sie doch elegant und ein Wunder der Technik.“ Außerdem sei sie schon alt, schiebt der Künstler nach. „Und funktioniert bei all der Belastung noch perfekt“. Ein wenig neidisch klingt sein Lachen schon.
Christian Rühmkorf

Copyright: Goethe-Institut Prag
September 2011

    Krištof Kintera

    *20. September 1973 in Prag

    1992 – 1999 Studium an der Prager Kunstakademie

    2003 – 2004 Studium an der Rijksakademie van beeldende kunsten in Amsterdam

    Mitglied der Künstlergruppe Jednotka. Zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen in der Tschechischen Republik und ganzen Welt. Krištof Kintera lebt und arbeitet in Prag.