Gemischtes Doppel | Visegrád 4

Osteuropäisierung des Westens – Die Seehofers und Salvinis stehen für eine Demokratie ohne Recht

Illustration: © Ulrike Zöllner

#5 | SLOWAKEI

Immer mehr westliche Politiker begeistern sich offen für die illiberalen Demokratien im Osten. Dabei unterschätzen sie die Folgen der toxischen Atmosphäre des Hasses auf die nächste Generation junger Europäer, meint Michal Hvorecký.

Liebe Tereza, liebe Monika, lieber Márton,

Eine Freundin, slowakische Ungarin, schrieb mir zutiefst besorgt aus Budapest, wo sie seit mehreren Jahren lebt. Ihr siebenjähriger Sohn kam aus der Schule und fragte, ob er, weil er aus Bratislava stammt, auch ein Migrant und deswegen für seine Landsleute gefährlich sei. Und, ob der George Soros tatsächlich so ein Bösewicht sei, der die stolze Ungarische Republik zerstören und mit illegalen Flüchtlingen überschwemmen wollte, wie es seine Klassenlehrerin erzählte.

„Was soll ich meinem Sohn sagen?“, fragte mich die erschütterte Übersetzerin. Die Wahrheit, antwortete ich. Sag ihm, das seien alles Lügen, alles absichtlich verbreitete Unwahrheiten, betonte ich. Und ich dachte an den alten Gedanken von Martin Buber, dass der wahre Kampf nicht zwischen West und Ost, zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sondern zwischen Bildung und Propaganda stattfindet.

Ich glaube, wir unterschätzen die Folgen der toxischen Atmosphäre des Hasses für die jüngste europäische Generation. Ich habe drei Kinder und merke, wie auch ihre Gespräche in den Schulen immer stärker davon beeinflusst sind, das sich die Stimmung im ganzen Land polarisiert, ja, radikalisiert hat, wie sich die Konfrontation verschärft.

Mit der Slowakei, das ist die traurige Wahrheit, wird es kein bilaterales Rücknahmeabkommen geben.

Meine Heimat, der Schengen-Außenstaat Slowakei, ist auch nach dem EU-Gipfel in Brüssel in der vergangenen Woche strikt dagegen, Geflüchtete aus anderen EU-Staaten aufzunehmen und unsere Regierung wird diese Haltung auch nicht ändern. Mit der Slowakei, das ist die traurige Wahrheit, wird es kein bilaterales Rücknahmeabkommen geben. Anderslautende Behauptungen sind Fake News. Alles Bluff. Die slowakische Asylpolitik wird so restriktiv bleiben, wie sie jetzt schon ist.

In den 90er Jahren galt der slowakische Rechtspopulist Vladimír Mečiar mit seinen nationalistischen, isolationistischen und anti-demokratischen Positionen als klarer politischer Außenseiter. Zum Glück gab es noch keine sozialen Medien. Inzwischen sind seine Ansichten und Methoden europaweit Mainstream geworden. Mečiars Verschwörungswahn, seine Ablehnungskultur gegenüber dem Fremden und Anderen, seine extremistischen Ansichten in der Flüchtlingsfrage, seine stundenlangen Stadionreden und seine latent rechten Kampfbegriffe, Angriffe auf Nichtregierungsorganisationen, Neigung zur Verallgemeinerung und Vereinfachung, seine Missachtung der offenen Gesellschaft – das alles wurde damals von der EU heftig kritisiert. Jetzt sind solche Positionen bei vielen Wählern – auch im Westen – wieder en vogue.

Vom Aufbruch-Optimismus des EU-Beitritts ist kaum noch was zu spüren.

Mečiar hätte 2018 viele internationale Verbündete inklusive des deutschen Innenministers Horst Seehofer. Und er hätte Facebook, Twitter, usw., um seine Hasstiraden viel schneller zu verbreiten. Als er 1998 endlich seinen Hut nehmen musste, weil er keine Partei mehr fand, die noch mit ihm koalieren wollte und die slowakische Regierung ihren Reformkurs startete, galt meine Heimat kurz als Musterland Osteuropas. Man wollte sich mit dem Westen friedlich vereinigen und zusammenwachsen. Doch vom Aufbruch-Optimismus des EU-Beitritts, ist kaum noch etwas zu spüren.

Heute wird wieder von Grenzen und Grenzschließungen geträumt, einige werden sogar neu errichtet. In Italien werden die Häfen für die Boote von Flüchtlingshelfern geschlossen, in Österreich neue Grenzschutz-Truppen ins Leben gerufen und die öffentlich-rechtlichen Medien als Fake News diffamiert, ähnlich wie in Polen, wie Monika vor Kurzem berichtet hat.

Wie sehr wollen sich die Salvinis, Kickls und Seehofers für Osteuropa und seine illiberalen Demokratien begeistern? Wird auch in westlichen Ländern das Stop-Soros-Gesetz, das die Tätigkeiten von Organisationen, die Flüchtlinge beraten kriminalisiert, verabschiedet? Oder das Drucken von Informationsmaterial unter Strafe gestellt? Die Versammlungsfreiheit unter Berufung auf die Wahrung der Privatsphäre von Anwohnern eingeschränkt? Die Obdachlosigkeit zur Straftat erklärt? Der Schutz der nationalen Kultur zur Staatspflicht erhoben? Die Rechte für Minderheiten eingeschränkt? Die Wahlkommissionen von Loyalisten beherrscht?

Ich warne vor der Osteuropäisierung des Westens. Eine Demokratie ohne Recht kann schnell in die Autokratie oder sogar in die Diktatur abrutschen. Sagen Sie es bitte auch den Kindern.

Tschechien hatte keinen Mečiar, die frühe Erfahrung mit gefährlichem Populismus fehlt dem Nachbarland. Sind gerade deswegen Miloš Zeman und Andrej Babiš so populär, und jetzt sogar gemeinsam mit den kommunistischen Altapparatchiks wieder an der Macht, liebe Tereza?

Michal Hvorecký
10. Juli 2018
Copyright: ostpol.de | n-ost e.V.


Gemischtes Doppel #4 | Polen
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Gemischtes Doppel #6 | Tschechien
Ein Neo-Zeitgeist geht um in Europa


Im Gemischten Doppel halten Michal Hvorecký (Slowakei), Tereza Semotamová (Tschechien), Márton Gergely (Ungarn) und Monika Sieradzká (Polen) die Diskurse ihrer Länder fest. Sie ergründen Themen wie die heutige Bedeutung Europas, Rechtspopulismus, nationale Souveränität, gesellschaftlichen Wandel, die Arroganz des westlichen Blicks – und brechen damit staatliche und gedankliche Grenzen auf.

Die Goethe-Institute in Polen, Tschechien und das Onlinemagazin jádu veröffentlichen die Beiträge der Kolumnenreihe mit freundlicher Genehmigung und in Kooperation mit ostpol, dem Online-Magazin von n-ost – Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung e.V.

    Michal Hvorecký

    Michal Hvorecký (* 1976) ist Autor und Übersetzer. Im Herbst 2018 erscheint sein neuer Roman Troll bei Tropen/Klett-Cotta. Seine Bücher wurden in zehn Sprachen übersetzt. Hvorecký übersetzt Prosa und Theaterstücke aus dem Deutschen ins Slowakische (Robert Walser, Martin Pollack, Dea Loher). Er lebt mit seiner Familie in Bratislava und arbeitet dort im Goethe-Institut.

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