Vollgas mit Vollbremsung

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Denise Linke auf dem Cover ihres Buches „Nicht normal, aber das richtig gut“ (Ausschnitt), © Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH

Schon das Stimmengewirr in einem Café überfordert sie – und trotzdem stürzt sie sich in den Großstadtdschungel. Denise Linke ist Asperger-Autistin und hat ADHS. Und die Welt soll wissen: ihr Leben ist wunderbar. Eine Begegnung, online und offline.

Der Journalist, der bin ich, viel zu spät dran, gerade die Treppe herunter und in die U9 gehechelt. Wie wohl ein Interview mit einer Asperger-Autistin abläuft, frage ich mich, mit einer Frau, der es schwer fällt, meine Mimik zu erkennen, die nur mit größter Anstrengung die kleinen Regungen und Zwischentöne wahrnimmt, die meinen Worten einen bestimmten Sinn geben, sie ironisch, scherzend, ernsthaft, interessiert oder wütend klingen lassen.

Als Denise Linke die Tür zu ihrer Wohnung öffnet, trägt sie ein weißes Hemd mit grauen Nadelstreifen, am Bauch ist es zu einem Knoten gebunden. Sie stellt ihre zwei Kater vor, die um meine Beine schleichen. Elvis und Michael. In irgendeinem Interview mit Denise habe ich gelesen, dass Händeschütteln für Autisten verstörend ist. Nackte Haut, Schweiß, das alles sei ziemlich ekelig. Jetzt reiche ich ihr trotzdem die Hand, automatisch.

Händeschütteln mit einer zierlichen jungen Frau, mit rotem Lippenstift, Piercing in der Nase und bunten Tattoos: Blumen hinter dem rechten Ohr, Anker auf der Innenseite des rechten Oberarms, die Controler-Symbole der Playstation auf dem rechten Unterarm. Eine ziemlich normale Berlinerin, denke ich.

Erst mit 22 bekam Denise ihre Diagnose. Seitdem kämpft sie für Inklusion und gegen Autismus-Klischees – wie das von den Inselbegabungen à la Rain Man, dem autistischen Kartenzählgenie aus dem gleichnamigen Hollywoodfilm. Denise schreibt unermüdlich Artikel über ihr Leben mit dem Autismus, gibt Interviews, im Oktober ist ihre Autobiografie Nicht normal, aber das richtig gut erschienen. Sie ist Herausgeberin des ersten Magazins von Autisten für Autisten. Den Titel des Magazins N#mmer hat sie sich in die Ellenbeuge tätowieren lassen.

„Ich bin nicht in der Lage, Reize zu filtern und Unwichtiges auszublenden“, steht in ihrem Buch. Alles beansprucht in gleichem Maße Denise’ Aufmerksamkeit. Das Ergebnis nennt sie Overload. Im Einkaufszentrum zum Beispiel:

„Musik spielt, dort hinten spielt aber schon wieder eine andere. Zwei Menschen streiten sich, eine Frau lacht, ein Kind schreit, die Rolltreppe schrappt, irgendeine Lampe flirrt, eine Verkäuferin bietet Proben an, zig Einkaufwagen rattern in unterschiedlichen Rhythmen, ein Mitarbeiter füllt klirrend Flaschen auf.“
(aus: Denise Linke, Nicht normal, aber das richtig gut, Berlin Verlag 2015)

In Denise’ Ohren addiert sich alles zu einer unerträglich lauten Kakofonie. Und dann sind da noch Leuchtreklamen, Rabatt-Schilder, Regalreihen voller CDs, BluRays, DVDs, Hunderte von Farbtönen, Schriftarten, stickige Luft…

Schon klar, warum Denise sich in ihrer Küche zum Interview treffen wollte – und nicht in einem Café. Und dann ist da noch die Sache mit der Empathie. Autisten haben Probleme, sich in die Lage ihres Gegenübers hineinzuversetzen. Ein verärgerter Blick, eine fragend hochgezogene Augenbraue. Ein Buch mit sieben Siegeln nennt Denise die Mimik und Gestik der Anderen.

Auch Leute, die länger mit Denise zu tun haben, erzählen, sie würden davon erst einmal nichts merken. Sie erleben sie als nett, etwas verplant – das bekomme auch ich schnell mit: ein Geräusch, das Tablet, das auf dem Regal aufleuchtet, und schon ist es dahin mit Denise’ Aufmerksamkeit. Aber das hängt eher mit ihrer ADHS-Diagnose zusammen. Erst wenn sie müde oder überfordert ist, passiert Außergewöhnliches – etwa dass Denise nicht merkt, ob ein Gespräch schon beendet ist und einfach mittendrin den Raum verlässt.

Wenn Kommunikation nur immer so einfach wäre, wie in Tweets, Chats und Posts. Die ganze anstrengende Smalltalk-Schauspielerei fällt weg, für Ironie und Verärgerung gibt es Emojis, und wenn Denise aufsteht und den Chat verlässt, stört das keinen.

Aber Denise ist nicht nur im virtuellen Leben – wie sie es nennt – hochfunktional. Das liegt auch an ADHS. ADHS-Denise kauft Flugtickets nach New York, Autismus-Denise sperrt sich Tage in einer Airbnb-Wohnung ein und lernt dann über Tinder ihren Guide für die laute, fremde Stadt kennen – und der wird dann ihr Freund. ADHS-Denise geht spontan zu Fußball-Länderspielen, Autismus-Denise bleibt am liebsten Zuhause und liest tausendseitige Märchenbücher. ADHS-Denise braucht ständig neue Reize, Autismus-Denise braucht das Gewohnte, das Stetige. „Ich bin wie ein Auto, in dem jemand gleichzeitig Vollgas gibt und das Bremspedal durchdrückt“, sagt sie. So ein Auto ginge ziemlich schnell kaputt, sage ich. „Ja, das ist schon alles ziemlich zermürbend“, sagt Denise.

Während ich in der aufgeräumten Küche mit den hellblauen Küchenschranktüren sitze, zwei Zigaretten mit Denise am Fenster rauche, und höre wie anstrengend Einkaufen für Autismus-Denise ist und wie viele Monate verstreichen bis sich ADHS-Denise dazu durchringt, die Steuererklärung zu machen, denn denke ich: das könnte auch ich sein. Laut Denise liegt das daran, dass so vieles an psychischen Störungen furchtbar menschlich ist. Nur dass sie das alles tausendmal intensiver wahrnimmt, ein Martinshorn nur aushält, wenn sie sich krampfhaft die Ohren zuhält, oder an einem bestimmten Punkt eine Party einfach verlassen muss – sofort.

Denise hat „normales“ Verhalten gepaukt, wie andere Gedichte. Wie ein fröhliches Gesicht aussieht hat sie sich bei ihrer Mutter abgeschaut, wie ein nachdenkliches von ihrer Oma. Smalltalk-Floskeln hat sie auswendig gelernt. „Als Autist lernt man automatisch Schauspielern“, sagt sie. „So wie man ist, scheint man ja nicht angenommen zu werden, also verstellt man sich eben.“

Als Kind ging Denise manchmal wochenlang als Pirat verkleidet in die Schule – oder redete wochenlang nur über das politische System im alten Rom. Sie erzählt von Mobbing, Ausgrenzung, Depression. Und da sie keine Diagnose hatte, konnte sie sich auch nicht erklären, woher all dieser Hass kam.

„Ich brauchte keinen Zettel, auf dem irgendeine Krankheit stand. Ich brauchte keine Therapie. Ich brauchte Menschen, die sich mit mir Mühe gaben, so wie ich mir Mühe mit ihnen gab.“
(aus: Denise Linke, Nicht normal, aber das richtig gut, Berlin Verlag 2015)

Dass Denise später auf eine integrative Gesamtschule wechselte, beschreibt sie heute als ihre Rettung. Und wenn sie über diese Schule redet, klingt das ein wenig nach der Gesellschaft, in der Denise gerne leben möchte: Gymnasiasten, Hauptschüler, Rollstuhlfahrer, Gehörlose, Autisten und Nichtbehinderte unter einem Dach, jeder lernt vom anderen, alle haben die gleichen Chancen, auf die Schwächen eines jeden wird individuell eingegangen, jeder darf seine Stärken ausspielen.

Eine von Denise vielen Stärken ist ihr unheimliches Gespür für Details, die Normalos wie ich noch nicht einmal wahrnehmen. Und Details merkt sie sich – für immer. Während unseres Gesprächs in ihrer Küche rezitiert sie aus heiterem Himmel die PQ-Formel für quadratische Gleichungen aus dem Matheunterricht. Denise weiß nicht, was diese Formel bedeutet, aber sie hat sie nie vergessen: x1,2 gleich minus p durch zwei plus/minus Wurzel aus p durch zwei im Quadrat minus q.

Dafür, dass Menschen die Welt unterschiedlich wahrnehmen und diese Welt auf unterschiedliche Weise voranbringen, hat Denise ein Wort: Neurodiversität. Sie zu akzeptieren, sei eine Riesenchance, da ist sich Denise sicher. „Wenn wir Neurodiversität nicht nutzen, sind wir Vollidioten.“

Martin Nejezchleba
 
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Januar 2016
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