Leben

„Das scheinbare Ende war der Anfang vom Neuen“

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Seit er als 16-Jähriger von einem Balkon im dritten Stock fiel, sitzt David Drahonínský im Rollstuhl. Bei den Paralympischen Spielen in London wird er jetzt die Tschechische Republik im Bogenschießen vertreten.

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David Drahonínský fiel mit 16 Jahren im Schlafwandel vom Balkon im dritten Stock. Foto: © privat

Als man David bei den Paralympischen Spielen in Peking die Goldmedaille um den Hals hing, liefen all die Jahre zuvor wie ein Film vor seinen Augen ab. Er sah, wie er als Jugendlicher schlafwandelnd vom Balkon aus dem dritten Stock fiel, wie er nach dem tragischen Unfall im Krankenhaus lag, wie er seinen Körper nicht mehr bewegen konnte und wie er kurz davor war, die Hoffnung in die Zukunft zu verlieren. Er sah seine Eltern und Geschwister, wie sie ihm immer wieder Mut machten, wie er sich von seinem schrecklichen Schicksal ablenken wollte und jede freie Minute in das Training steckte, wie er ganz allmählich wieder seinen Platz in der Gesellschaft fand und sportlich die ersten Erfolge verbuchte. Er war glücklich und er wusste: Bei den nächsten Paralympischen Spielen werde ich wieder dabei sein.

Hartes Training für große Momente

Jetzt sind es nur noch wenige Tage, bis der inzwischen 30-Jährige zu den Paralympischen Spielen in London reist, um dort wieder die Tschechische Republik im Bogenschießen zu vertreten. Es ist der dritte große internationale Wettbewerb, an dem er teilnimmt. Bei den Weltmeisterschaften 2003 in Madrid hat er zwar schlecht abgeschnitten, aber wertvolle Erfahrungen gesammelt: „Ich habe dort gesehen, wie die anderen Athleten in meiner Kategorie ihre Rollstühle umbauen und welches Zubehör sie verwenden. Da habe ich viel gelernt: Weil meine Körpermuskulatur sehr schwach ist, muss ich mich zum Beispiel am Rollstuhl festgurten.“

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2008 in Peking war er dann so gut vorbereitet, dass er prompt die Goldmedaille gewann. Natürlich hofft David, dass er auch dieses Jahr in London wieder gewinnt oder zumindest einige Medaillen mit nach Hause bringt. Er freut sich aber auch auf die Gespräche mit den anderen Sportlern, die die verschiedensten Behinderungen haben, und auf die Euphorie, wenn er gemeinsam mit den Anderen feierlich in das Olympische Dorf einzieht.

Vier Jahre lang hat David trainiert, um bei den Paralympischen Spielen in London dabei zu sein – doppelt oder sogar dreimal so viel wie vor dem Wettbewerb in Peking. Jetzt laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Er trainiert jede Woche dreißig bis vierzig Stunden: Rund 2.500 Pfeile schießt er zurzeit pro Monat, dazu kommen dann noch die Physiotherapie, das Fitnesstraining und die mentale Vorbereitung. Seit April 2012 arbeitet er mit einem Sportpsychotherapeuten zusammen. Einmal die Woche zeigt der ihm zum Beispiel Übungen gegen Stress, die er dann Zuhause durchführt. „Bogenschießen ist sehr, sehr schwierig. Man muss nicht nur körperlich stark sein, sondern sich auch sehr gut konzentrieren können und mental stark sein“, erklärt David. Das ist für ihn gerade das Spannende an der Sportart.

Multitasking trotz Handicap

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Nicht nur im Sport ist David offenbar ein Experte darin, die verschiedensten Anforderungen unter einen Hut zu bekommen. Nachdem bei dem Unfall seine Halswirbel gebrochen waren, konnte er zunächst nur noch seine Augen bewegen. Erst nach jahrelangem Training war er überhaupt in der Lage, mit dem Rollstuhl zurechtzukommen.

Heute schafft er es, trotz seiner Behinderung allein zu leben, ohne Hilfe von Assistenten. Er hat neben dem Sport sein Bachelor- und Masterstudium durchgezogen und ein Erasmus-Semester in Frankfurt an der Oder verbracht. Zurzeit stemmt er seinen Teilzeitjob als Projektleiter bei einer Krankenkasse. Und zwischendurch nimmt er sich immer wieder Zeit, um Anderen als Vorbild zu dienen: Er besucht Schulen, um mit Kindern und Jugendlichen zu sprechen. Er gibt Interviews für Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehen. Er plant, eine Autobiografie schreiben zu lassen. Und er hat vor, demnächst auch regelmäßig mit Menschen zu sprechen, die – wie er selbst – nach einem Unfall plötzlich auf den Rollstuhl angewiesen sind.

All diesen Menschen möchte er mit seiner Geschichte Mut machen: „Im Leben kommt nichts von selbst, man muss seine Chancen nutzen. Nach einem Unfall kann man den Eindruck haben, alles sei beendet. Aber meine Geschichte zeigt, dass damit erst alles neu begonnen hat“.

Janna Degener
 
Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
August 2012
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