Wendeliteratur

© Verlag Kiepenheuer & Witsch
© Verlag Kiepenheuer & WitschWelche Unterschiede gab es wirklich zwischen DDR und BRD, welche Klischees existierten und existieren weiter? Wie haben Menschen in Ost und West auf Wende und Wiedervereinigung reagiert? Welche Erwartungen wurden im Laufe der Jahre erfüllt oder enttäuscht? Unzählige Autoren haben sich in ihren Romanen und Erzählungen mit diesen Fragen beschäftigt. Janna Degener hat eine Auswahl von lesenswerten Werken zusammengestellt.

Thomas Brussig: Helden wie wir (1995)

Ein zum Brüllen komischer Roman über den Sohn eines Stasi-Spitzels und einer Hygieneinspektorin, der die Berliner Mauer mithilfe seines Penis‘ zum Einsturz bringt: Oberflächlich geht es um die Geschichte des pubertierenden Jugendlichen. Zwischen den Zeilen liest man harsche Kritik an der Stasi, dem Klima von ständiger Kontrolle und Verschweigungspolitik in der DDR sowie an Christa Wolf, die die Pathetik der Wendezeit mitgeprägt hat.

Jens Sparschuh: Der Zimmerspringbrunnen (1995)

Ein witziger Roman über einen abgewickelten Angestellten der Ostberliner Kommunalen Wohnungsverwaltung, der bei einer westdeutschen Firma für Zimmerspringbrunnen anheuert und dabei in eine Ehekrise rutscht. Man kann den Roman völlig unpolitisch lesen oder die Anregungen zum Nachdenken annehmen. Klischees von westdeutschen überheblichen und profitsüchtigen Kapitalisten und naiven ostdeutschen Schauspielern werden aufgegriffen – unter anderem in der Hauptfigur, die trotzdem oder gerade deshalb Sympathie weckt.

© Rowohlt Verlag

Ingo Schulze: Simple Stories (1998)

29 Kurzgeschichten, die allesamt in der Nachwendezeit spielen und vom Leser wie ein Puzzle zusammengefügt werden können: Die etwa dreißig bis vierzig vorgestellten Figuren tauchen immer wieder auf und die verschiedenen Handlungsstränge sind ineinander verkettet. Es geht um die DDR-Vergangenheit, um Beziehungsprobleme, um Geld und Beruf, um Hoffnungen und Enttäuschungen, kurz: Um Biografien des gesellschaftlichen Wandels im Osten.

Jana Hensel: Zonenkinder (2002)

Biographie, Reportage, Protokoll oder Roman? – Dieses Buch lässt sich nicht leicht in Kategorien fassen. Die Autorin war 13, als die Mauer fiel. Die DDR beschreibt sie ernst, aber nicht lakonisch, als Ort ihrer Kindheit, der mit den Veränderungen ausgelöscht wurde. Dass das Buch, wie proklamiert, für eine ganze Generation spricht, kann man sicher anzweifeln. Dennoch ermöglicht es spannende Einblicke in den Alltag der DDR und in Generationenkonflikte, die im Zuge von Mauerfall und Wende entstehen konnten.

Clemens Meyer: Als wir träumten (2006)

Ein beklemmender Roman, der süchtig macht: Es geht um vier Jugendliche, die im Leipzig der Nachwendejahre aufwachsen und auf ein besseres Leben hoffen. Auch in diesem Roman geht es um Erwartungen, die die Wende mit sich bringt, und um Enttäuschungen. Denn mit den ersehnten Freiheiten bringt das neue Leben auch Drogen, Gewalt und Ärger mit der Polizei…

© Deutscher Taschenbuch Verlag

Sabine Rennefanz: Eisenkinder (2013)

Sabine Rennefanz fragt sich, ob sie selbst aufgrund der gemeinsamen Herkunft und der gemeinsamen Erfahrungen durch den Mauerfall ähnliche Entwicklungen durchgemacht hat wie die Mörder der Zwickauer Zelle. Doch das ist nur der Aufhänger für diese Autobiografie eines Wendekindes. Die Emotionalität und Rennefanz‘ tolle Schreibe machen das Buch spannend und auf jeden Fall lesenswert.

Madeleine Prahs: Nachbarn (2014)

Dieser Roman erzählt die Biografien von sechs Menschen, die ganz besonders durch die politischen Ereignisse ihrer Zeit geprägt waren. Die Lektüre fordert vor allem auf den ersten Seiten ein bisschen Durchhaltevermögen, weil viele verschiedene Charaktere und Geschichten auftauchen und auch die zeitliche Orientierung manchmal schwerfällt. Wer dranbleibt, lernt die Personen aber richtig gut kennen und bekommt dadurch einen neuen Blick auf das Thema „Mauerfall und Wiedervereinigung“.

Janna Degener

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
Dezember 2014


Foto: Günter Höhne © picture alliance/ZB

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