Essays

Zeitgenössische deutsche Lyrik

Ulrike Draesner - Foto: Goethe-Institut / Andrea Fernandes

Tausendfach mit den düsteren Mänteln des sicheren Unterganges prächtig behangen, lebt sie doch: die deutschsprachige Lyrik ist stark, vielstimmig und lustvoll vital.

Als mein Debüt 1995 erschien, stand die deutsche Lyriklandschaft im Zeichen einer Spaltung, die aus der Nachkriegszeit stammte. Da die eher traditionellen Autoren, Reime, Rückzug ins eigene Innere oder in die Natur. Alltagssprache, manchmal allerdings auch nur Tischdeckenmuster. Dort die Avantgardisten, die sich auf das Wiedererstarken experimentellen Sprechens in den 50er und frühen 60er Jahren bezogen (Ernst Jandl, H.C.Artmann, Friederike Mayröcker). Doch auch hier schien ein Ende des Spielens und Zerlegens erreicht. Hinzukam eine seltsame Schwäche: welche Rollen wurden Dichterinnen politisch und/oder sozial-kulturell zugestanden (vgl. Elke Erb und Ulla Hahn). Wir, weiblich, jünger, schauten uns zweifelnd an. Ich lernte aus der englischen und amerikanischen Lyrik, bezog von dort Schreibinspiration und -mut.

Dass mir zu Beginn meines Schreibens nicht zur Gänze bewusst war, wie stark Tradition Lyrik formt, stimmt und stimmt nicht. Das Deutsche ist eine stark historische, regional heterogene Sprache. Ein Shakespeare-Drama wirkt, heute auf Englisch gelesen, frisch und sehr viel weniger historisch als wenn man in vergleichbares barockes Deutsch eintaucht. Die Poesie ist im Deutschen spät angekommen, in seltsamen Sprüngen, als träge sie Sieben-Meilen Stiefel, mache aber nur alle 100-200 Jahre einen Schritt. Die Poesie deutscher Zunge ließ sich, man denke an den Minnesang, das religiöse Lied, das Sonett, von ihrer gelehrten (lateinischen) oder ihrer anderssprachigen kulturellen Umgebung inspirieren. Alles war Tradition, als Martin Opitz 1624 sein Buch von der Teutschen Poeterey veröffentlichte; das Sonett hinüberdefinierte ins Deutsche, über-setzte im doppelten Sinn des Wortes. Und alles war Revolution und Erneuerung. Die Volkssprache als „natürliche Zunge“ konnte und sollte den antiken Metren nicht weiter folgen; die Suche nach einem eigenen, tonalen Ausdruck begann.

Nichts deutlicher als das: Poesie ist ein so eigenes Sprach-Geschäft – ein so eigenes, wundervolles Treiben der Sprache an ihre Grenzen und über diese hinaus, dass keiner je ein Gedicht ohne Tradition wird schreiben können, auch wenn diese Wahrheit immer wieder hinter Genieattitüde, Musentraum und Inspirationshoffnung versteckt wird. Doch sind auch diese – Tradition! Das romantische Bild vom Dichter als inspiriertem Wirrkopf und Gefühlskessel scheint sich dabei in weiten Teilen der potentiellen Leserschaft erstaunlich gut gehalten zu haben.

Die noch 1995 so spürbaren poetischen „Lager“ haben sich aufgelöst. In den 90er Jahren begann ein poetisches Denken Raum zu greifen, das Gedichte von ihrer Lautlichkeit und Rhythmik her fasst und die öffentliche Lesung als Kunstform und Hörereignis zu schätzen weiß. Eine erste (halbe) Mediengeneration von Dichtern betrat die Szene; sie brachten Lust am gesprochenen Wort sowie an der Einmaligkeit der Aufführungssituation mit. Eine neue Besinnung auf die mündlichen Ursprünge der Lyrik und die im Kontext dieser Mündlichkeit erfundenen Formen wie Metrum, Strophe und Reim wurde unter diesem Aspekt nötig – und möglich. Auftritte: laut, leise, gesungen, rezitiert, gekonnt. Ohrenkunst. Eine Vielfalt kündigte sich an, die weiterentwickelt um Umgang mit traditionellen Formen, bis heute lebendig ist.

Die deutschsprachige Lyrik erlebt eine goldene Zeit. Natürlich, ich bin befangen. Und sage es doch. Reiche ist die Zeit allemal: die Kanzone, der Sonettenkranz, die Villanelle, Ode und Hymne manchmal deutlich erkennbar, manchmal in erfindungsreichen Palimpsesten wiederbelebt (u.a. Jan Wagner, Marion Poschmann, Thomas Kling, Norbert Hummelt). Angloamerikanische Traditionen re-importiert, Sprachinspirationen und Sondersprachen genutzt (Gerhard Falkner, Uljana Wolf, Wulf Stolterfoht). Ernst gemacht mit dem Hybrid des „freien Verses“, der Rhythmik des Wechsels, der Mehrstimmigkeit. Die Komik nicht vergessen, zeitgenössisches Geschehen nicht aus den Augen verloren. Gedichte als Mittel des Denkens und eines denkenden Fühlens wieder entdeckt (Katharina Schultens, Daniel Falb, Kathrin Schmidt). Das Ungleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Stimmen – verändert.

Deutschland sucht seit 1989 nach einer neuen inneren und äußeren Identität. Nicht nur die DDR verschwand; auch die BRD löste sich auf. Fort die alten Gewissheiten, Zäune und Sprachregeln. Fremd der Umgang der jeweils anderen Seite mit Pathos und Gefühl. Befreiend in dieser Fremdheit. Es blieb: eine Aufgabe, die bis heute wirkt und zu der Sprache wirklich etwas beizutragen hat. Wer wollen, wer können wir sein?

Die Echos dieser Frage höre, ihr unruhiges Flackern lese ich in der deutschen zeitgenössischen Poesie: Wie kann Geschichte Raum finden in Gedichten? Wie gehen wir mit „Natur“ um? Wie und was sind wir als Personen darin? Oder als Menschen? Oder als Tiere? Die deutschsprachige Lyrik von heute ist nicht „politisch“ geworden im 70er Jahre Sinn des Wortes (als politisches Pamphlet). Doch sie ist zeitgenössisch im besten Sinn: bezieht sich auf unsere Rollen, Lebensumstände, Gefühle, unsere Außenwelt. Bearbeitet sie sprachlich, verstellt und verschiebt sie – in ihre Erkennbarkeit.

„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“, so Theodor W. Adorno 1951 in „Kulturkritik und Gesellschaft“. Adorno traf ins Schwarze. Für mich war sein Satz von jeher eine Frage: wie sollte es möglich sein? Heute sieht man, wie lange es dauerte, die Poesie, erstickt und zur Neuerfindung gezwungen durch den Missbrauch alltäglicher, politischer, sozialer und lyrischer Sprachen seit 1933, wieder in Gang zu setzen.

Von allen literarischen Gattungen führt die Poesie ihr Gespräch seit frühester Zeit über die Grenzen der Nationalsprachen hinaus. Als Dichterin, die in einer Gedichtsprache schreibt, die aus einer Ausstreichung hervorgeht, einem dicken schwarzen Balken, half mir dieser Aspekt der Tradition am stärksten. Und er ist mir bis heute der wichtigste und liebste geblieben.

Ulrike Draesner, *1962 in München, studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie in München und Oxford. Sie promovierte 1992 mit einer Arbeit über Wolframs Parzival. 1993 stieg sie aus der Wissenschaft aus, um zu schreiben. Sie lebt als freie Schriftstellerin, Übersetzerin und Literaturkritikerin in Berlin. Für ihre Essays, Lyrikbände und Romane hat Draesner zahlreiche Auszeichnungen erhalten.
Ulrike Draesner