Essays

Zeitgenössische Poesie aus Deutschland ...

Foto: privat

Nicht jeder, der sich einen Überblick verschaffen will, baut sich gleich eine ‚Aussichtsplattform‘. Doch für die gänzlich unüberschaubare Welt der Poesie haben wir mit der Internetplattform lyrikline eine solche geschaffen. lyrikline versammelt als Text und Ton heute annähernd 10.000 Gedichte von über 1000 Dichter aus 104 Ländern. Man hört ausnahmslos die Stimme des Dichters beim Vortag seiner Gedichte und kann zugleich das Gedicht in der Originalsprache mitlesen und dank verschiedener Übersetzungen auch verstehen.

Da sich die Frage, was ‚deutsche‘ Dichtung im Vergleich mit den Dichtungen der restlichen Welt im Besonderen auszeichne, niemals verbindlich und allumfassend beantworten lässt, schon gar nicht von nur einem einzelnen ‚Betrachter‘, soll hier der Versuch unternommen werden, ein paar versprengte Beobachtungen aus diesem unübersichtlichen Terrain zusammenzutragen, um darüber ins Gespräch zu kommen.

Das Spektrum an Schreibweisen in Deutschland ist groß, die Szene heterogen und vielfältig, gut vernetzt und theoretisch sehr reflektiert. Die Einflüsse sind vielfältig und eher von persönlichen Vorlieben als einem verbindlichen Kanon geleitet. Wirkliche ‚Schulen’ der Poesie sind nicht auszumachen. Die meisten Dichter sind aber ganz sicher geschult an den Gedichten der klassischen Moderne, des Expressionismus usw. Gemeinsam scheint den deutschen Poeten vielleicht eine Abgrenzung gegenüber Befindlichkeitsdichtung jeglicher Art.

Wo steht deutsche Dichtung heute, wenn man versucht, sie in einen internationalen Kontext zu stellen und einzuordnen? Und wo fängt man an? Beginnen wir thematisch und auf der anderen Seite der Erdkugel und bewegen uns dann unter wechselnden Gesichtspunkten von Kontinent zu Kontinent.

Oftmals ist das Gedicht, wenn es nicht gerade sich selbst verhandelt, ein rhythmisches, verdichtetes, klangvoll-musikalisches Sprechen über die Welt, als welches es einmal der deutsche Dichter Thomas Kling bezeichnet hat. Ein wesentlicher und naheliegender Aspekt der Welt ist und bleibt die Natur, über welche deutsche Dichter auch heute noch gern und regelmäßig schreiben. Flora und Fauna, Wasser, Landschaften und die Jahreszeiten sind Topoi, die der lyrischen Subjektivität unendlich viel Projektionsfläche und ebenso viele Anknüpfungspunkte bieten. Es verwundert deshalb auch nicht, dass in anderen klimatisch wechselhaften und unsteten Gefilden wie bspw. Neuseeland dies gleichermaßen der Fall ist.

Ein modernes Gedicht aus Deutschland hat eigentlich kein Thema, weil es so vielschichtig sein kann. Wenn heute im Gedicht etwas verhandelt wird, sind es meist konkrete Dinge, und weniger die großen Menschheitsthemen und -fragen. Erzählt wird in der deutschen Poesie wenig. Das Aufrufen und Nacherzählen von historischen Begebenheiten, wie man bspw. aus der chinesischen Poesie kennt, das Wiederbeleben und Wachhalten von Legenden, Anekdoten und allegorischen Geschichten aus längst vergangener Zeit, ein solch erzählerisches Moment trifft man in der deutschen Poesie eher selten. Und auch den surrealen und magischen Irritationen, die in der zeitgenössischen Dichtung Chinas zunehmen, begegnet man in der deutschen Poesie auch nicht allzu häufig.
Aber im gleichen Moment ließe sich das Behauptete mit dem kürzlich erschienenen Band ‚Neu-Jerusalem‘ von Ulf Stolterfoht komplett widerlegen, in welchem geradezu surrealistisch von fiktiven, jedoch historisch anmutenden Begebenheiten erzählt wird. Religiöse Kontexte, wie sie Stolterfoht in diesem Band herstellt, sind der zeitgenössischen deutschen Dichtung eigentlich ebenso fremd.

Die Frage nach der Macht wird in der deutschen Poesie zwar auch gestellt, allerdings weniger explizit als bspw. in der historisch informierten und politisch reflektierten afrikanischen Dichtung. Vergangenheitsbewältigung und Geschichtsaufarbeitung findet noch gelegentlich statt im deutschen Gedicht, sind aber m. E. kein sonderlich raumgreifendes Anliegen.
Geschichtliche Sujets und antike Stoffe werden von deutschen Dichter vereinzelt aufgesucht, aber insgesamt drängen zeitaktuelle Fragen und Geschehnisse wesentlich häufiger ins Gedicht, ebenso wissenschaftliche Themen, Aspekte der Medienwelt und vielerlei Resonanzen des Pop. Ein womöglich weltweites Phänomen.

Die zeitgenössische deutsche Dichtung ist motivisch sicherlich nicht arm, aber in der Ausschmückung nicht so bild- und metaphernreich wie bspw. die arabische Dichtung. Der Ton der zeitgenössischen Dichter ist in der Regel nicht der ‚hohe Ton‘. Eher Pointen statt Pathos. Das fühlende und reflektierende ‚lyrische Ich’ verirrt sich nur noch selten ins zeitgenössische deutsche Gedicht, und die eine im Gedicht versteckte klare Aussage lässt sich schon lange nicht mehr finden.     
Viel eher kann es sein, dass ein deutscher Dichter bspw. allerlei disparates Sprachmaterial verarbeitet und mit Fragmenten unserer modernen Sprachwelt und aus den verschiedensten Diskursen der Kunst, Philosophie und Wissenschaft ins Verhältnis setzt. In dieser Hinsicht gibt es viele Berührungspunkte mit der aktuellen britischen Dichtung, die in ähnlicher Weise Sprachreflexion betreibt. Denn hier wie dort hat sich unter dem Einfluss der US-amerikanischen Poesie, im Speziellen durch die Dichter der New York School und nicht zuletzt der Language Poets, ein Poesieverständnis durchgesetzt, welches das Gedicht als reines Konstrukt innerhalb der Sprache begreift. Auch deutsche Dichter haben das Gedicht von kommunikativen und appellativen Elementen befreit und versuchen im experimentellen Umgang mit Sprache, die Erwartungen und Denkmuster der Leser subversiv zu unterlaufen. Sprache ist zum Material geworden, welches erforscht und erprobt werden will. Auch die sogenannten Erasures und Listengedichte gehören ins Erprobungsfeld, ebenso wie das Spiel mit verschiedenen Perspektiven und Tonlagen literarischen Sprechens.

Verglichen mit der aktuellen experimentellen Poesie aus Frankreich findet das Experiment in der deutschen Poesie allerdings nicht so wesentlich auf der Soundebene statt. Die französischen Kollegen arbeiten weit mehr mit Effekten des Repetitiven und des expressiv Lautpoetischen.
In der deutschen Poesie wird das Lautliche eher unterschwellig und in einer den Sprachfluss förderlichen Art und Weise eingesetzt. Man denke bspw. an die phonetisch durchdachten Gedichte des in Deutschland beheimateten Südtirolers Oswald Egger. Selbigen könnte man auch als Beispiel für eine gewisse Konjunktur großflächiger Arbeiten anführen, gleichsam unbegrenzter Gedichte.

Der hier zur Verfügung stehende Raum hingegen ist arg begrenzt. Ein Sprechen über große Themen auf kleinem Raum kann seinem Gegenstand natürlich nicht gerecht werden, und so auch hier. Aber vielleicht lässt sich darüber ins Gespräch kommen.

Heiko Strunk, *1966, MA, hat Literaturwissenschaft, Philosophie und Politologie in Marburg und Berlin studiert. Seit 1999 ist er Projektleiter & Redakteur der Poesieplattform lyrikline,  die 2005 mit dem ‚Grimme Online Award’ und 2008 als „Ausgewählter Ort“ in ‚Deutschland – Land der Ideen’ ausgezeichnet wurde. Mitarbeiter der Literaturwerkstatt Berlin und des Poesiefestival Berlin, Redaktion und Regie divers. Hörbücher. Seit 2000 National Editor bei Poetry International Rotterdam, seit 2002 Mitglied der Programmkommission des ZEBRA Poetry Film Festival. Heiko Strunk lebt in Berlin.
Heiko Strunk, 2015