Essays

Navvadottar

Sachin Ketkar beschreibt, wie kleinere Zeitschriften und die Globalisierung zu Katalysatoren für marathisprachige Dichtung um die Jahrtausendwende wurden.

Das erste Jahrzehnt marathisprachiger Lyrik des 21. Jahrhunderts wurde von Autoren eingeläutet, die ihre ersten Werke in den 1990ern verfasst und in dieser Schaffensperiode ihre eigene Stimme gefunden hatten. In diesen Jahren machte die poetische Avantgarde auch einen dramatischen Wandel durch. Das lyrische Empfinden, die sprachliche Ausrichtung, die poetische Technik, Stil und Themen veränderten sich maßgeblich. Diese Transformation korrespondierte mit sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen der Globalisierung und der Marktöffnung, die in diesen Jahren die indische Gesellschaft überrumpelten. Unterschiedliche soziale und kulturelle Orte und die sorgenvolle Konfrontation mit schwer überschaubaren Globalisierungsprozessen haben die Poetik, die Politik und den Alltag der in dieser Epoche entstehenden Dichtung, die heute unter dem Begriff navvadottar bzw. Dichtung nach 1990 bekannt ist, nachhaltig geprägt.

„New little magazines“ und die Globalisierung

Die Navvadottar Dichtung entstand mit dem Wiederaufleben der Bewegung „new little magazine“, die sich einerseits darum bemühte, an das Erbe der 1960er- und 1970er-Jahre anzuknüpfen, einer Zeit, in der viele kleinere literarische Zeitschriften entstanden waren. Andererseits wollte man auch über dieses Erbe hinausgehen und eine eigene poetische Sprache entwickeln, die zeitgemäß und experimentell sein sollte. Die neuen „little magazines“, z.B. Shabdavedh (herausgegeben von Ramesh Ingle Utradkar und D.G. Kale, Buldana), Abhidha (herausgegeben von Hemant Divate, Mumbai, und später umbenannt in Abhidhanantar) sowie Saushthav (herausgegeben von Shridhar Tilve, Mumbai), boten einer ganzen Generation angehender Lyriker eine Plattform. Darunter Saleel Wagh (geb. 1967), Mangesh Kale (geb. 1966), Sanjeev Khandekar (geb. 1958), Manya Joshi (geb. 1972), Hemant Divate (geb. 1967), Shridhar Tilve (geb. 1964), Sachin Ketkar (geb. 1972) und viele mehr. Radikale Dalit-Dichter und feministische Dichterinnen wie Bhujang Meshram (1959–2007), Arun Kale (1954–2008), Malika Amarsheikh (geb. 1957), Pradnya Pawar (geb. 1966) und Kavita Mahajan (geb. 1967) schrieben in dieser Zeit ihre provokanten Gedichte weiter. Live Update: An Anthology of Recent Marathi Poetry (herausgegeben und übersetzt von Sachin Ketkar, Verlag: Poetrywala, 2005) präsentiert die englischen Übersetzungen dieser neuen Dichtung. Einige Gedichte sind online auf den Webseiten Seiten www.museindia.com (Nummer 3, Juli–Sept. 2005) und www.poetryinternationalweb.net (Juli 2005) zu lesen.

Zahlreiche Dichter der älteren Generation wie Dilip Chitre, Arun Kolatkar, Namdeo Dhasal, Vilas Sarang und Vasant Abaji Dahake brachten ihre bedeutendsten Lyrikbände im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts heraus. Andere, kleinere Zeitschriften wie Navakshar Darshan, Aivaji, Khel, Atirikta und Va entstanden ebenfalls in dieser Dekade. Diese kleineren, neuen Zeitschriften widmeten ihre Aufmerksamkeit aufkeimenden literarischen und kulturtheoretischen Debatten. Sie wollten sich historisch in die Tradition der 1960er-Jahre einreihen und in die daraus hervorgegangene kulturelle Szene. Das kann man an den Sonderausgaben erkennen, die Mitte der 90er-Jahre herauskamen. Abhidha zum Beispiel gab je ein Sonderheft zum Thema Chauthi Navta (Vierter Modernismus) und Dilip Chitre heraus. Im Jahr 1999 gab Shabdavedh eine Sonderausgabe von Marathi-Dichtung nach 1990 heraus. Abhidhanantar veröffentlichte im Jahr 2001 die Spezialausgabe „Marathi-Dichtung im 21. Jahrhundert“ und eine weitere Sonderausgabe im Jahr 2005 über zeitgenössische Marathi-Dichtung. Diese neuen kleinen Hefte gaben auch anderen literaturkritischen Stimmen Raum, darunter Vishram Gupte, Shridhar Tilve, Praveen Bandekar, Saleel Wagh, Sachin Ketkar, Eknath Pagar, Avinash Sapre und Mahendra Bhavre. Diese Stimmen haben viel zur Entwicklung jüngerer Marathi-Dichtung und Literaturkritik beigetragen.

Viele Umbrüche und Unbehagen

Literatur- und Kulturkritiker haben diese neue Lyrik im Kontext der Globalisierung und eines damit verbundenen Unbehagens interpretiert. Ich selbst habe mir die Mühe gemacht, die verschiedenartigen Krisen, die den Hintergrund dieser Dichtung bilden, etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Neben einer durch die Globalisierung verursachten Krise habe ich eine „poetische Krise“ identifiziert, im Sinne dessen, was Harold Bloom als „Anxiety of Influence“ bezeichnet hat, also eine kreative „Einflussangst“ in Bezug auf vorangehende Avantgarde-Dichter wie Arun Kolatkar (1932–2004), Dilip Chitre (1938–2009) und Namdeo Dhasal (1949–2015). Des Weiteren konstatierte ich eine „spirituelle Krise“, die sich in der indirekten Resonanz apokalyptischer Szenarien und dem Archetypus des Weltuntergangs bemerkbar macht und die man bei vielen Lyrikern aus dieser Epoche feststellen kann. Außerdem habe ich versucht, diese Lyrik als Verwirklichung eines dynamischen, komplexen und heterogenen kulturellen Orts zu lesen, bzw. als „Semiosphäre“ nach Juri Lotman, der sie angehört und die von den irreversiblen Kräften der Globalisierung transformiert wird. Navvadotar-Lyrik kann auch konzeptualisiert werden als Verkörperung dessen, was Bakhtin das „Chronotop“ der globalisierten Welt nennt.

Die Tradition der Navaddotar-Dichtung wird heute von einer ganzen Reihe jüngerer Dichter des 21. Jahrhunderts weitergetragen. Die jüngst wieder neu aufgelegte Abhidhanantar-Ausgabe von Oktober 2014 stellt das Thema Facebook Ani Kavita oder Facebook and Poetry zur Diskussion und bietet ein Forum für Lyriker wie Ajeet Abhang, Omkar Kulkarni, Pranav Sakhdev, Satyapal Singh Rajput und viele andere. In vielerlei Hinsicht führen diese Autoren das Erbe der 90er-Jahre fort, knüpfen daran an und erforschen neue Dimensionen des poetischen Ausdrucks und der Erfahrung.

Sachin Ketkar Sachin Ketkar’s Bücher umfassen “Skin, Spam and Other Fake Encounters: Selected Marathi Poems in translation”, “(Trans) Migrating Words: Refractions on Indian Translation Studie”s, und “Live Update: An Anthology of Recent Marathi Poetry” an denen er als Herausgeber und Übersetzer mitgewirkt hat. Seine Gedichtsammlungen auf Marathi tragen die Titel „Jarasandhachya Blogvarche Kahi Ansh" und "Bhintishivaicya Khidkitun Dokavtana“
Sachin Ketkar, 2015

Übersetzung: Claudia Richter