Essays

Der Poesiefilm

Im Allgemeinen erzählen Kurzfilme kleine Geschichten oder überraschen uns mit experimentellen Bildern und Tönen. Poesiefilme allerdings setzen sich inhaltlich, ästhetisch und formal mit Gedichten auseinander. Durch ihre hohe Medialität ist die Poesie eine Querschnittskunst, derer sich der Film bedient, um transmediale Kunstwerke zu schaffen. Die genre-übergreifende und publikumswirksame Form des Poesiefilms präsentiert hervorragend die Mannigfaltigkeit von Lyrik.

Dabei ist der Poesiefilm so alt wie das Filmemachen selbst. In den Anfängen des Films nahmen Regisseure Gedichte als Grundlage für ihre Filme und Dichter erforschten die Möglichkeiten des Films. Im frühen 20. Jahrhundert wurden zahlreiche Filmemacher von der Poesie inspiriert. Die vermutlich erste filmische Adaptionen des Gedichtes „Twas the Night before Christmas” (1822) von Clement Clark Moore drehte Edwin S. Porter 1905 in den Studios von Thomas Alva Edison. Dieser Poesiefilm war eine raffinierte Kombination aus Realfilm und Stopptrick. Bereits zwei Jahre später experimentierte Apollinaire mit der filmischen Umsetzung seiner Gedichte. Ein weiteres frühes Zeugnis für den Einfluss der Dichtkunst auf die großen Regisseure ist der Film THE UNCHANGING SEA (1910) von D. W. Griffith nach dem gleichnamigen Gedicht von Charles Kingsley. Michael Curtiz (CASABLANCA, USA 1942) drehte 1919 unter seinem ursprünglichen Namen Mihály Kertesz den Film JÖN AZ ÖCSEM, der auf dem gleichnamigen Gedicht von Antal Farkas basiert und ein frühes Zeugnis von der Zeit des politischen Umbruchs in Ungarn ist. Mit seinen futuristischen Ausstattungen von Walt Whitmans Großstadt-Melancholie setzen Charles Sheeler und Paul Strand mit ihrem Film MANHATTA (USA 1921) bis heute Standards. L’INVITATION AU VOYAGE (F 1927) von Germaine Dulac ist eine zeitlose Interpretation von Charles Baudelaires „Les Fleurs du Mal“. Weitere außergewöhnliche Werke waren COMBAT DE BOXE (B 1927) von Charles Dekeukeleire nach einem Gedicht von Paul Werrie und natürlich L’ETOILE DE MER (F 1928) von Man Ray, indem die Zeilen von Robert Desnos Gedicht »La place de l’etoile« (1928) auf Tafeln eingeblendet werden. 1930 gelangen Rudi Klemm und Filmpionier Julius Pinschewer mit »Chad Gadjo« eine bezaubernde Trickverfilmung des gleichnamigen Gedichtes und Volksliedes, das am Sederabend zu Pessach zum Abschluss der Haggada gesungen wird. Lotte Reiniger schuf 1936 in Großbritannien den Silhouetten-Film THE KING'S BREAKFAST nach dem gleichnamigen Gedicht von A. A. Milne. Ab den 1940er Jahren entstanden weltweit die unterschiedlichsten Poesiefilme auf 16mm oder 35mm Filmmaterial. 1941 setzten William Hanna und Joseph Barbera aus den USA ebenfalls das Gedicht „Twas the Night before Christmas” mit den bekannten Rivalen Tom und Jerry in einem Zeichentrickfilm um, der 1942 für einen Oscar in der Kategorie »Bester animierter Kurzfilm« nominiert wurde. In den 1950ern und 1960ern erreichte der Poesiefilm einen Höhepunkt im deutschsprachigen Raum mit experimentellen Filmen der österreichischen Dichter Ernst Jandl und Gerhard Rühm. Ab den 1970er Jahren wurden einige Poesiefilme auf unterschiedlichen Videosystemen gedreht.

Die analogen Techniken haben lange Zeit die Produktionen von Kurzfilmen, Animationen und Experimentalfilmen beherrscht. Die Einführung des Personal Computers in den 1980er Jahren löste eine technische Revolution aus, da von nun an Filme digital produziert oder nachbearbeitet werden konnten. Was zuvor sehr aufwendig mit Zeichen- oder Legetrickfilm, Silhouetten-Animation, Rotoskopie oder Zeichnen bzw. Kratzen direkt auf Film produziert wurde, konnte nun mit entsprechenden Computerprogrammen schneller und einfacher hergestellt werden. Anfangs besaßen Filmproduktionsfirmen und Hochschulen solche Computerausrüstungen, doch seit den 2000er Jahren wurden die Heimcomputer und Filmprogramme erschwinglicher. Dies führte auch zu einem deutlichen Anstieg von Poesiefilmen. Einfach zu bedienende Filmprogramme (Schnitt, Ton, Postproduktion etc.) ermöglichten den Filmemachern auf die Komplexität der Poesie zu antworten. Der Wechsel zwischen realen und virtuellen Bilder oder deren Vermischung war damit in größerem Umfang möglich. Fortan konnte der Film dem Gedicht strukturell antworten.

In der Regel beträgt die Länge eines Poesiefilmes zwischen zwei und zehn Minuten. Das Gedicht, auf dem der Kurzfilm basiert, kann in verschiedener Weise auftauchen. Sehr häufig wird er von einem Sprecher, oftmals der Dichter oder die Dichterin selbst, aus dem Off vorgetragen. Eine besondere Form ist hier der Poetry Clip, in dem der oder die Autorin selbst vor der Kamera steht und das Gedicht mit passender Mimik und Gestik performt. Eine andere mögliche Form ist der Vortrag durch Schauspieler, die im Rahmen einer kurzen Geschichte das Gedicht sprechen. Animationen untermalen häufig die zugrunde gelegten Gedichte, während Experimentalfilme eher gegen die Struktur des Gedichtes arbeiten. Die Ergebnisse sind oft sehr spannend und mitreißend.

In den letzten Jahren ist auch ein Anstieg von Poesiefilmen, die von Dichtern selbst gedreht wurden zu verzeichnen. Waren es am Anfang eher Filmemacher, die fremde oder eigene Gedichte adaptierten, sind es mittlerweile auch anerkannte Dichter aus Deutschland, Polen, Taiwan, den Niederlanden und weiteren Ländern, die bemerkenswerte Poesiefilme drehen.

Das ZEBRA Poetry Film Festival schreibt seit 2002 alle zwei Jahre den Wettbewerb um den besten Poesiefilm aus und präsentiert den aktuellen Stand dieses dynamischen Kurzfilmgenres. Es bietet Dichtern, Filme- und Festivalmachern eine international vernetzte Plattform zur Standortbestimmung und richtet sich an eine breite Öffentlichkeit sowie an Film und Poesie interessierte Zuschauer. Eine Programmkommission mit Experten aus Lyrik, Film und Medienkunst sichtet und wählt aus den Bewerbungen die besten Filme für die Sektionen „Wettbewerb“ und „Prisma“ aus. Eine international besetzte Jury bestehend aus Filmemachern, Dichtern, Medienkünstlern und Medienvertretern kürt aus den nominierten Filmen des Wettbewerbs die Gewinner. Zum jüngsten ZEBRA Poetry Film Festival wurden 2014 beinahe 1000 Filme aus 70 Ländern eingereicht.

Thomas Zandegiacomo Del Bel lebt in Berlin und hat Germanistik, Romanistik und Medien- und Kommunikationswissenschaft in Mannheim studiert. Er arbeitet als freier wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe. Seit 2006 ist er Künstlerischer Leiter des ZEBRA Poetry Film Festivals und Filmkurator für interfilm Berlin. Außerdem ist er als Jurymitglied bei verschiedenen Filmfestivals und als Medienpädagoge tätig.
Thomas Zandegiacomo Del Bel, 2015