Essays

POESIS – Sprachkunst in der Datenwelt

„welcome wutwut werther“: drei von 10.000 Wörtern, die in Zeilen zart mit Bleistift auf einen Bogen Papier geschrieben bzw. gedruckt wurden. Es handelt sich um Passwörter von Nutzern der Yahoo-Plattform – Passwörter, die von Hackern gestohlen und öffentlich gemacht wurden und die der deutsche Medienkünstler Aram Bartholl im Jahr 2014 auf diese Weise ironisch zur Kunst bzw. zu einem Stück visueller oder post-digitaler Poesie umfunktioniert hat. 1


Aram Bartholl: „123456“ (2014)

Die Arbeit ist ein aktuelles Beispiel von Poesie, die Sprachkultur im Zeitalter von Computernetztechnologie und Big Data kritisch reflektiert. Künstlerisch lässt sich solche Sprachkunst in das seit den 1950er Jahren entwickelte Programm experimenteller Poesie einordnen, das an Material und Gebrauch der Sprache selbst und ihrem Zusammenhang mit Informationstechnologie und postmodernen Kommunikationsbedingungen interessiert ist.

Das Beispiel von Aram Bartholl steht dabei für die Tendenz, sich von der Fixierung auf Computerhardware zu lösen, die Medien- und Internetkunst und auch elektronische Sprachkunst verfolgen, und sich wieder mit allen möglichen Mitteln im analogen Raum der Kunst zu äußern. Das heißt für die Poesie, dass man sich im Bewusstsein der Datenwelt medial höchst variabler Schreib- und Artikulationsweisen bedient, von Stimme und Handschrift, Druck auf Papier bis hin zu multimodalen Installationen oder Interventionen im öffentlichen Raum.

Sprachkunst mit den Möglichkeiten von Computer und Internet erfuhr im deutschen Sprachraum nach Einführung des WWW eine Blütezeit, also insbesondere seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Es gab eine rege Szene so genannter Netz- oder Elektronischer Literatur mit verschiedenen Entwicklungslinien, die Computer und Internet für neue hypermediale, interaktive und auch kollaborative Schreibweisen sowie auch für den Austausch der Akteure untereinander erprobte. 2 Diese Szene erhielt durch drei Wettbewerbe starken Auftrieb, die das Wochenmagazin DIE ZEIT 1996 bis 1998 auslobte. In den 2000er Jahren ebbte die Aktivität von Netzliteratur hierzulande wieder ab, sie ist heute Gegenstand von Forschungs- und Archivierungsvorhaben. 3

Nicht identisch, allenfalls in Teilen überlappend mit Netzliteratur ist die poetische Sprachkunst, die sich in der Nähe zur bildenden Kunst bzw. Medienkunst mit digitaler Sprachkultur beschäftigt hat und für die Genrebegriffe wie digitale, elektronische oder auch Computer-Poesie gefunden wurden. Digitale Poesie ist an sich international ausgerichtet, wie auch an entsprechenden Foren, Ausstellungen und Symposien deutlich wird, die im deutschen Sprachraum stattfanden. Überhaupt ist das Genre als Genre insbesondere ein Produkt kuratorischer Aktivität. 4

Das soll die Bedeutung nicht schmälern, die digitaler Poesie besonders in Deutschland zugekommen ist: Die ersten poetischen computergenerierten Texte, die „Stochastischen Texte“ von Theo Lutz, entstanden 1959 im Umfeld konkreter und experimenteller Poesie. Diese Kunstrichtung wurde seit den 1950er Jahren von Künstlern wie Eugen Gomringer, Gerhard Rühm, Franz Mon, Carlfriedrich Claus und anderen mit auf den Weg gebracht und konzentriert sich primär auf die semiotische Qualität der Sprache, also auf die visuelle und klangliche Gestalt von Buchstaben und Wörtern, auf ihre Syntax auf der Fläche und im Raum, auf Bedeutungs- und Gebrauchsmöglichkeiten. Dazu gehörte auch die Beschäftigung mit Medientechnologie wie Radio, Film, Video und auch früh schon dem Computer. 5

Kurz erwähnt seien zur Veranschaulichung zwei Projekte digitaler Poesie von deutschsprachigen Künstlern, die die Tradition experimenteller Schreibweisen reflektieren und zugleich digitale mit menschlicher Aktivität verschränken: Die „Stochastischen Texte“ von Theo Lutz, die aus kurzen computergenerierten Sätzen bestehen, wurden 2005 von dem Netzkünstler Johannes Auer aus Stuttgart nachprogrammiert und somit zugänglich gemacht, zugleich auch zum Projekt „Search Lutz“ erweitert, indem die Wörterdatenbank automatisch durch Suchmaschineeingaben und aktiv durch Online-Nutzer erweitert werden kann oder indem die Texte im Moment ihres Entstehens durch eine Schauspielerin vorgetragen werden. 6


Der Wiener Sprachkünstler Jörg Piringer verbindet eine Reihe von Fertigkeiten zu dynamischen Gesamtkunstwerken: Er programmiert Texte, gestaltet animierte Typografien, mischt in Performances eigene Software mit Live Visuals und seiner Stimmkunst, beispielsweise mit seinem Performancesystem „nam shub“ (seit 2005), bei dem auch klassische Verfahren konkreter, visueller oder auditiver Poesie als Algorithmen für Textgenerierung programmiert sind. 7

Dergleichen Sprachkunst geht nicht in Literatur auf, etwa als einer ihrer Randbereiche, sondern begründet Poesie als eigenständige Kunstform zwischen den Künsten, wobei sie mittlerweile mehr im System der bildenden Kunst, auch dem der Musik verortet ist als im System der nach wie vor vom Medium Buch und der Gattung Roman dominierten Literatur.

Verweise

  1. Vgl. http://www.datenform.de/123456-eng.html
  2. Verwiesen sei auf den instruktiven Überblick von Beat Suter http://www.netzliteratur.net/suter/Geschichte_der_deutschsprachigen_Netzliteratur.pdf
  3. Vgl. hier https://adel.uni-siegen.de und https://www.dla-marbach.de/bibliothek/literatur-im-netz sowie für den Diskurs http://www.netzliteratur.net
  4. Vgl. hier besonders die Dokumentation auf http://www.p0es1s.net . Sowie Friedrich W. Block: p0es1s. Rückblick auf die digitale Poesie. Klagenfurt, Graz: Ritter 2015.
  5. Vgl. zu diesem poetischen Programm die internationale Materialsammlung auf http://www.ubu.com
  6. http://searchlutz.netzliteratur.net
  7. http://joerg.piringer.net

Dr. Friedrich W. Block ist Geschäftsführer der Stiftung Brückner-Kühner und Leiter des Kunsttempels in Kassel. Er hat als Kurator zahlreicher Ausstellungen, Literaturveranstaltungen und Symposien wie auch künstlerisch gewirkt. Seit 1992 ist er für das „p0es1s“-Projekt und seit 2000 für das „Kasseler Komik-Kolloquium“ verantwortlich. Seine wissenschaftliche Arbeit konzentriert sich auf zeitgenössische Literatur, Sprachkunst und Humor.
Friedrich W. Block, 2015