Essays

Indische Identität im Spiegel indischer Lyrik

Arundhathi Subramaniam ergründet den Begriff des „Indischseins“ in der Lyrik, die dem Begriff zugrunde liegenden Probleme und die vielen Spielarten indischer Identität in der zeitgenössischen Dichterlandschaft.


Gebieter der Identität,
nach Deinen Wünschen erschaffe mich neu.
Schreibe mir ein neues Alphabet der Gefahr…
lehre mich dazuzugehören,
so wie Du,
auf jeder Seite im Buch der Weltgeschichte.


Diese Zeilen schrieb ich in einem ziemlich impulsiven Gedicht mit dem Titel To the Welsh Critic Who Doesn’t Find Me Identifiably Indian (Für den walisischen Kritiker, dem ich nicht indisch genug bin). Überraschenderweise findet das nunmehr ein Jahrzehnt alte Gedicht immer noch Anklang bei Lesern verschiedenster Couleur. Kultureller Fundamentalismus ist offenbar ein weit verbreitetes Leiden.

In gewisser Hinsicht entsprang das Gedicht meinem Zorn. Doch eigentlich beruhte es auf einem tiefer liegenden Unbehagen. In meinen Jahren als Kuratorin, Lyrikerin und Journalistin für darstellende Kunst begegnete ich vielen Politikern, die mit Blaupausen kultureller Zugehörigkeit um sich warfen. Sie bedienten sich einer Sprache dogmatischer Schlusszeichen und fühlten sich unwohl angesichts einer Existenz, die mit Gedankenstrichen und Kommata gelebt wird. Ihre Identitätsformel ließ keinen Raum für ein Leben jenseits aller Parolen. Sie konnten nicht verstehen, dass es möglich ist, sich gleichzeitig in einem Zustand von Widerspruch und Zuneigung zu befinden. Dass einige von uns vielleicht eine Tradition kritisieren, ohne sie abzulehnen. Dass wir nicht Marionetten unserer Vergangenheit sein, doch uns auch nicht von ihr lossagen wollen.

In seinen Harvard-Vorlesungen rät uns der Dichter Borges, dass wir als Künstler nicht danach streben sollten, zeitgenössisch zu sein, denn die Zauberformel für ein Leben in Vergangenheit oder Zukunft habe noch niemand gefunden. Wenn man diese Logik auf kulturelle Identität überträgt, ist das „Indischsein“ etwas ebenso Unvermeidbares. Ich muss es nicht proklamieren, zur Schau stellen, ihm etwas Exotisches verleihen oder es verleugnen. Es mag chaotisch und voller Kompromisse sein, wie das bei einem kulturellen Erbe zumeist der Fall ist. Aber es ist auch reich, vielschichtig und äußerst lohnenswert. Und so bin ich – ob es mir nun gefällt oder nicht – einfach durch und durch indisch!

Die „nicht indisch genug“-Rufe sind jedoch nicht verstummt. Ein bestimmter Typus des westlichen Lesers braucht offenbar eine ganze Weile, um zu akzeptieren, dass „die Literaturen der Welt“, wie der Lyriker und Dichter Adil Jussawalla es beschreibt, „keine Kolonien in seinem Geschmacksimperium sind“ (In: New Writing in India, 1974, Penguin).

Zudem findet sich die Forderung nach einer einheitlichen, indischen Identität auch in den provinziellen Ablegern des indischen Kulturbetriebs. Noch immer existiert ein starkes, nativistisches Lager, das die Abwesenheit von „Authentizität“ in jeglicher Form des kosmopolitischen Kulturschaffens beklagt. Besonders englischsprachige indische Dichter im urbanen Raum sind mit dieser Anschuldigung vertraut. Ihre Werke werden regelmäßig als selbstbezogene Nabelschau abgetan (nur Fassade und kein Innenhof, wie jemand es ausdrückte) und ihnen wird vorgeworfen, nicht annähernd so „verwurzelt“ wie andere indische Lyrik zu sein.

Im Grunde genommen verrät uns die Forderung, das Indischsein unter Beweis stellen zu müssen, mehr über den Fordernden als über den Aufgeforderten – und sie kann sich schlimmstenfalls zu einer Form von Kulturterrorismus entwickeln. Dahinter steht eine Position, die sich vor Hybridität, Pluralität und kultureller Dynamik fürchtet. Im Kern dieser Auffassung steckt die Vorstellung von einer unverfälschten indischen Identität, die etikettiert, spezifiziert und zu einem Dokument kultureller Legitimation gemacht werden kann.

In meinen Jahren als Indien-Redakteurin der Online-Plattform Poetry International Web stieß ich auf eine Lyriklandschaft von unglaublicher Vielfalt – einer Vielfalt, die ein um das andere Mal bewies, dass es nicht nur eine einzige, zu bevorzugende Art des Indischseins, nicht nur eine Art von Zugehörigkeit gibt.

So reagieren einige Dichter aus Nordostindien mit ihren Werken beispielsweise auf regionale Konflikte, staatlich geförderten Terrorismus, Vernachlässigung durch die Zentralregierung, autoritäre Religionspolitik und den Verfall der Stammeskultur und halten damit unerschrocken an der Rolle des Poeten als kollektivem Bewusstsein fest. When the Prime Minister Visits Shillong the Bamboos Watch in Silence (Wenn der Premierminister Shillong besucht, schaut der Bambus schweigend zu) ist der Titel eines bissigen Gedichts des Khasi-Poeten Kynpham Singh Nongkynrih. Die Mizo-Dichterin Mona Zote schreibt folgende denkwürdige Zeilen:

Wenn der Mond heute Nacht grau erscheint, wenn Du denkst, sie weint …

Wenn der Wind keine Liebesnachrichten bringt, stehen
die Villen stumm und leer, so weil
Du in einem Reservat lebst


((In: Dancing Earth: An Anthology of Poetry from North-East India, Ed. Robin S. Ngangom, Kynpham Singh Nongkynrih, Penguin, 2009)

Aber auch diese „politische“ Poesie ist nicht nur Schwarz und Weiß. So bringt der Nordosten die lyrische Dichtung von Mamang Dai aus Arunachal Pradesh hervor, die den Fluss, den Wald und die Berge als lebende Existenzen voller heiliger Erinnerungen besingt. Wenn sie einfach und ruhig konstatiert, der Fluss habe eine Seele, klagt sie auf indirekte, aber eindringliche Weise die dominierende, auf Gier und Tücke beruhende Weltsicht an.

Ein weiteres, interessantes Paradebeispiel ist die Herausbildung der Marathi-Lyrik im städtischen Raum in den 1990er-Jahren. Mit Versen, die ohne Apologetik ein neues, globalisiertes Indien heraufbeschwören, zitieren diese Dichter ungestraft Mumbai-Slang, Markennamen, Reklametafeln, Werbesongs, Fernsehserien und Bollywood-Kino. Dabei fühlen sie sich ganz offenbar wohl in ihrer Haut, wirken fern jeglicher Identitätskrisen und sind bereit, ihre auf verschiedenen Einflüssen beruhende Identität zu kritisieren und zu würdigen.

Der Blick in andere Landesteile lässt eine noch größere Diversität erkennen. In Veerankuttys in Malayalam geschriebener, leiser und faszinierender Lyrik über Umweltthemen oder Manushya Puthirans stiller Ergründung der ungehört verhallten Stille des Lebens der tamilischen Mittelschicht in den Städten wird die Kritik an einer bestimmten Weltsicht im Tonfall deutlich. Die Entscheidung, mit verhaltener Stimme zu sprechen, ist ebenso politisch wie poetisch.

Andere Beispiele offenbaren ein tiefes Verlustgefühl – durchsetzt mit dem Klang von Gefängnistüren in der Punjabi-Lyrik von Amarjit Chandan; ausgedrückt durch die strukturierten, ambivalenten, in Urdu verfassten Liebesgedichte von Tarannum Riyaz; die avantgardistische, metarealistische Hindi-Lyrik von Geet Chaturvedi; den düsteren Surrealismus von Joy Goswamis Bengali-Lyrik; EV Ramakrishnans englische Poesie, die dem Unterschied zwischen „Gebet und Falschaussage“ auf den Grund geht; die Kleinstadtperspektive stiller Verwunderung in Vinod Kumar Shuhklas Hindi-Versen; die verspielte Genialität, mit der der Gujarati-Poet Chandrakant Shah Baroda, Jeans und den indischen Mystiker Kabir in seinen Versen zusammenbringt.

Wer davon ist die wahrhaft indische Stimme? Ist eine dieser Stimmen indischer als die andere? Es wäre naiv, eine solche Behauptung aufzustellen. Diese und viele weitere, der Ironie und Lyrik, des Selbstzweifels und der Sozialkritik, der moralischen Bedenken und Metaphern, der Kritik und Ausgelassenheit fähigen Stimmen erinnern uns daran, dass eine Welt, die von einer engstirnigen Politik, einer verarmten Fantasie und einer Entzauberung des Wunderbaren regiert ist, einfach keine ist, in der es sich lohnt zu leben. Zudem offenbaren sie uns die großartige Vielstimmigkeit der zeitgenössischen indischen Lyrik.

Arundhathi Subramaniam ist eine preisgekrönte Dichterin und Schriftstellerin und außerdem als Kritikerin, Kuratorin und Poesieherausgeberin tätig. Ihr neuestes Gedichtband heißt „When God Is a Traveller“, und befindet sich derzeit in der engeren Auswahl für den TS Eliot Preis. Ihr aktuellstes Werk als Herausgeberin ist „Eating God: A Book of Bhakti Poetry“.
Arundhathi Subramaniam
Übersetzung: Christiane Wagler und Nils Plath
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