Essays

Die malabarische Lyrik spricht eine neue, klare Sprache

Die „neue Lyrik“ Keralas, schreibt Thachom Poyil Rajeevan, ersetzt Ideologie durch Erfahrung und besinnt sich wieder auf die Spontaneität der Sprache.

Lyrik ist in jeder Sprache ein kreatives Medium, mit dem sich der Puls jener gesellschaftlichen, politischen und historischen Bewegungen messen lässt, die sich im Leben dieser Sprachgemeinschaft ereignen. Die zeitgenössische Malayalam-Dichtung macht hier keine Ausnahme. Sie spiegelt all die Höhen und Tiefen wider, die den Bewohnern des Bundestaates Kerala, dieses Landstreifens an der Südspitze des indischen Subkontinents widerfahren.

Analog zur Sprachgeschichte vieler Entwicklungsländer ist auch die in Malayalam verfasste Dichtung unweigerlich mit der kolonialen Vergangenheit verbunden. Früher ließ sich die etablierte Malayalam-Lyrik von der klassischen Sanskritliteratur, vor allem dem Ramayana und dem Mahabharata, inspirieren. Mit der Ankunft der Europäer und als Ergebnis ihrer kulturellen Hegemonie wurde Sanskrit von Englisch, Deutsch und Französisch verdrängt. Daher verdankt die moderne Malayalam-Lyrik Europa viel, was die Verfeinerung von Form und Inhalt anbelangt.

Unabhängig von Inspirationsquellen und Ausdrucksmitteln, schienen in der Vergangenheit Lyriker und Leserschaft der malabarischen Sprachgemeinschaft darin übereinzustimmen, dass Lyrik eine erweiterte Form gesellschaftlichen Handelns sei. Dem Dichter kam eine gesellschaftliche Verantwortung zu, er war unter anderem ein Hüter moralischer Werte, ein Verfechter von Freiheit und Menschenrechten, ein Retter der Unterdrückten. Das war eine allgemein verbreitete Ansicht, die bis zum Einzug der wirtschaftlichen Liberalisierung und Globalisierung Ende des vergangenen Jahrhunderts von Generation zu Generation weitergegeben wurde. So gesehen war die Jahrtausendwende mit der Herausbildung neuer Themen, Stile, Techniken und ästhetischer Standards auch ein Wendepunkt in der Dichtkunst.

Erst in den vergangenen beiden Jahrzehnten haben Frauen und gesellschaftliche Randgruppen wie die Dalits sowie religiöse und gesellschaftliche Minderheiten sich Gehör in der Lyrik verschafft, die traditionell eine Domäne von Männern und elitären Schichten ist. Zeitgleich kamen im lyrischen Diskurs neue, die Umwelt, Menschenrechte und Gleichberechtigung der Geschlechter behandelnde Sujets auf. Um es mit den Worten von Atoor Ravi Varma, einem der Wegbereiter der modernen Malayalam-Dichtung, zu sagen: „Die neuen Dichter bauen nicht mehr auf die althergebrachten Werte des Individuums, der Familie, der Nation und der Tradition. Sie haben keine einfachen Antworten. Und sie vermischen nicht mehr Traum, Moral und Ideologie in ihren Gedichten. Es sind die Gedichte derer, denen Waffen und Schilde abhandengekommen sind. Ihr Weg ist gepflastert mit Fragen, Argumenten, Negationen und Zweifeln.“

Die zeitgenössische Malayalam-Dichtung ist charakterisiert durch ein Lyrikverständnis, das in Kerala besonders einfühlsam ist. Ästhetisch drückt sich das durch eine Natürlichkeit aus, wie in P. Ramans Gedicht Mullathara (Der Jasminberg):

Wo geht es lang?
Wo geht es lang?
Kleine Kletterer am Jasminberg sind rastlos.

Weder habe ich einen Pandal errichtet,
noch habe ich sie gebändigt, so sie sich ausbreiten,
ich lasse ihnen ihre Rastlosigkeit.


(In: Kanam, Current Books, Trichur, 2006)

Diese Natürlichkeit, obwohl sie wie eine Abkehr von der Wissensordnung der modernen Kultur erscheinen mag, ist keine Rückentwicklung zur Prämoderne. Sie ist eine Art, sich in seinem unmittelbaren Umfeld zurechtzufinden und die zentrierten, schematisierten Praktiken der Moderne hinter sich zu lassen. Sie ist zugleich ein Versuch, Sprache dahingehend zu verfeinern, dass sich mit ihr die zarten Konturen und Nuancen der Erfahrung beschreiben lassen. Das ist ein Aspekt, den die Lyriker der 1960er- und 1970er-Jahre entweder ignorierten oder der für sie aufgrund ihrer ideologischen Vorkonditionierung nicht beherrschbar war. Und so dient der Vorstoß der neuen Lyrik ganz offenbar dazu, die Objektivität von Wörtern und damit die Spontaneität von Sprache wiederzugewinnen.

Für den modernen Dichter zählt allein das Wort. Wie es der bekannte, zeitgenössische Lyriker Kalpetta Narayanan in seinem Gedicht Kavi (Der Dichter) ausdrückt:

Der Mensch ist in einer Festung,
deren einzige Türen Worte sind.
Nur der Dichter weiß es.
Er tritt hinein, indem er etwas zur Tür macht.
Er tritt hinaus, indem er etwas zur Tür macht.


In: Ozhinja Vricha Chayalil, Mulberry Books, Khozikode, 2001)

In der Lyrik von Frauen manifestiert sich das Ende der Unterdrückung in einer Art trügerischer Naivität. Die Bandbreite der Erfahrungen wird oft in eine Körperlichkeit übersetzt, wie in Anitha Thampis Gedicht Ezhuthu (Schreiben):

Während das Wasser
abfließt
und der nackte Körper
fröstelt
im zitternden Wind
die ausgestreckten Finger
durch die Fenster
war mir kalt
einen Moment
Und der Lendenschurz
der Nässe flog davon.
Und gewickelt in den
verrückten Sommer
vergaß ich Verschämtheit. 
Wie die großen Tropfen
von den Baumwipfeln
einzig die Haarsträhnen 
schreiben auf den Körper
aus der Erinnerung
zwei oder drei Zeilen
mit Wasser.


(In: Muttamatikkumbol, Current Books, Thrissur, 2004)


Durch den Austausch von Ideologie durch Erfahrung kann die neue Lyrik aus den unterschiedlichsten Quellen schöpfen. Ob gesellschaftlicher, politischer, historischer oder persönlicher Natur, ist ihre (oft fälschlich für Schlichtheit gehaltene) Klarheit die markanteste Eigenschaft der neuen Dichtkunst, die einfach bestehen möchte, ohne Antworten geben zu müssen.

Thachom Poyil Rajeevan hat Gedichte, Romane, Reisetagebücher und Essays in Malayalam und Englisch veröffentlicht. Seine malayalam-sprachigen Romane wurden verfilmt, seine Gedichte wurden in viele Sprachen übersetzt. Er leitet derzeit die Monsoon Editions, eine englischsprachige Verlagsinitiative aus Kerala. Er ist außerdem Redakteur der malayalam-sprachigen Ausgabe des Magazins Muse India.
Thachom Poyil Rajeevan
Übersetzung: Christiane Wagler