Essays

Zeitgenössische Dichtung in Mizoram

Goethe-Institut

Uralte mündliche Traditionen, europäische lyrische Formen und das Internet kommen zusammen und verleihen der im Entstehen begriffenen Mizo-Lyrik ihren ganz eigenen ungewöhnlichen Charakter, schreibt Margaret Ch. Zama.


In Mizoram ist die Praxis des Gedichteschreibens relativ jung. Früher gab es Liedgedichte, die an die mündlichen Traditionen, Lieder und Gesänge der Vorväter anknüpften. Der Versuch, eine neue Tradition in der Mizo-Dichtung zu etablieren, ‚hlahril‘ genannt, was so viel wie ‚erzählendes Lied‘ bedeutet, ist auch eher jüngeren Datums. James Dokhuma prägte den Begriff im Jahr 1980 mit dem Titel seines ersten Gedichtbandes Ka Hlahril (Meine Gedichte). Seit 2005/06 ist ein weiterer Begriff im Umlauf: ‚hlachham‘ oder ‚chhamhla‘, was so viel bedeutet wie ‚rezitatives Lied‘.

Der vergleichsweise späte Beginn der zeitgenössischen Lyrik ist dem Umstand geschuldet, dass die Drucktechnik erst nach 1894 nach Mizoram gelangte, als die ersten Missionare die römische Schrift einführten. Außerdem war die mündliche Liedtradition in der Gesellschaft so stark verankert, dass sich Neuerungen nur mit Mühe durchsetzen konnten.

Andere nennenswerte Dichter, deren Werke publiziert wurden, sind neben Dokhuma auch Lalzuahliana (Lungmawl Selin 1, 1992), Lalsangzuali Sailo (Kulva 2, 1993), R.L. Thanmawia (Senmei 3, 1997), Mafaa Hauhnar (Chawlhna Tuikam 4: A Juvenilia, 1997), Capt. L.Z. Sailo (Awmkhawhar Suihlunglen 5, 1998) und C. Chhuanvawra (Zo Kung 6, 2005). Trotz ihres Gegenwartsbezuges gehören Lalzuahliana, Mafaa Hauhnar und andere einer traditionelleren lyrischen Schule an. Das zeigt sich insbesondere am sprachlichen Stil und am thematischen Zugang. Dem menschlichen Leben mit seiner Komplexität wird hier in einer traditionellen Sprache und Metaphorik gehuldigt, häufig mit christlichen Untertönen – so könnte man die Tendenz beschreiben, die hier sichtbar wird.

Wie so oft bei historischen Übergangsphasen überlagern sich hier alte und neue Formen. Das wird vor allem in den Werken von Lalzuahliana und Mafaa Hauhnar deutlich. Lalzuahliana gehört zu den ersten Mizo-Dichtern, die mit postmodernen Stilmitteln experimentierten. Ein typisches Merkmal seiner Dichtung ist die ungewöhnliche, subversive und provokante Sprache, die mit Wortspielen, Witz und Satire operiert. Hinzu kommt die Freude am Experiment mit dem Reimschema und mit klassischen Gedichtformen, z.B. dem Sonett.

Der Einfluss von Laltluangliana Khiangte, einem anerkannten Dichter und Schriftsteller (Rochuam 7, 2006), zeigt sich an der Herangehensweise einiger Dichter aus der neuen Generation, die in ihren Werken abwechselnde Trends in Bezug auf poetische Technik, lyrische Sprache und Thematik aufgreifen. Diese Lyriker, z.B. F. Lalzuithanga [Thinlung Luangliam 8, 2012], C. Lalhruaitluanga (Chhamhla 9, 2013), Hr Chhangte (Lungtui 10, 2015) und Laltlanthangi JH (Leikapui Zaiva 11, 2015) legen besonderen Wert auf Reim, Technik, Struktur und Form, während sie sich thematisch für die Natur und soziale Belange interessieren. Der Band Leikapui Zaiva von Laltlanthangi JH könnte als Beispiel herangezogen werden. Er deckt die ganze Bandbreite der gängigsten poetischen Formen wie Ballade, Ode, Satire, Elegie, Rondel, akrostisches Gedicht, dramatischer Monolog und Sonett ab, wie man sie im Inhaltsverzeichnis des Buches aufgelistet findet. In Chhamhla führtC. Lalhruaitluanga die verschiedenen klassischen europäischen Formen vor, wie Villanelle, Rondel, Sonett, Madrigal, und Quartett. Er operiert auch mit dem Reimschema des Sonetts. Zwei Gedichte sind sogar explizit als Shakespeare-Sonett betitelt.

Was deutlich sichtbar ist, ist der Einfluss traditioneller lyrischer Genres und Praktiken, die der englischen literarischen Tradition entlehnt sind, mit der die meisten Dichter im Laufe ihres Literaturstudiums in Berührung kamen.

Parallel zu diesen Fremdeinflüssen gab es noch andere Umstände, die die Entwicklung der modernen Mizo-Dichtung begünstigten, z.B. die elektronischen Medien. Zwei Facebook-Gruppen, die sich auf Mizo-Lyrik spezialisieren, sind seit 2012/2013 aktiv. Eine andere mit dem Namen ‚Zaituahrem‘ existiert seit 2014. Dieser neue Trend gewinnt immer mehr an Popularität. Ich nenne diese Autoren „Online-Poeten“ – ihre Werke sind bislang im herkömmlichen Sinn unveröffentlicht.

Was die Texte der Online-Poeten kennzeichnet, ist die Befreiung von strengen formalen und strukturellen Zwängen. Die meisten Gedichte sind im Freivers oder in dreizeiligen Strophen verfasst. Gegenstand sind meist säkulare und soziale Belange, während Reimschemata eher vernachlässigt werden. Der Fluss ist eher prosaisch als poetisch, vorherrschend sind Wortspiele und so weiter. Auf Youtube findet man ‚Flair Mizo‘, eine Performance-Dichtung mit Rap-Elementen. Ob sich diese neuen und innovativen Trends in Zukunft durchsetzen und in die literarische Öffentlichkeit Eingang finden, wird sich zeigen. Aber eines ist sicher – dass die Mizo-Dichtung eine Zukunft hat.

Verweise

  1. Jemand, der sich aus Verliebtheit oder anderen Gründen närrisch verhält und dafür kritisiert wird.
  2. Name des Vogels, der von Einheimischen ‚vakul‘ oder ‚bhimraj‘ genannt wird, und sich durch seinen langen Schwanz auszeichnet. Bei poetischen Begriffen in der Mizo-Sprache wird oft die erste Silbe eines Wortes ans Ende gestellt.
  3. ‚Rotes Feuer‘. Der Dichter glaubt oder hofft, sein Gedicht solle wie reinigendes Feuer wirken und die Welt von allen Übeln befreien.
  4. ‚Ruhestätte am Meer (oder am Wasser)‘.
  5. ‚Alleine und einsam‘. Ein verbreiteter poetischer Begriff, der gerne von Dichtern und Sängern verwendet wird und das Gefühl beschreibt, das sie zum künstlerischen Schaffen drängt.
  6. Wörtlich übersetzt heißt das ‚der Mizo-Baum‘. Hier bezieht sich der Dichter auf Nationalismus und Identität in seinem Werk. Erweitert bedeutet das auch, dass sein Werk wichtig ist für alle, die sich mit der Mizo-Sprache identifizieren und sich durch sie repräsentiert fühlen.
  7. ‚Ein besonders wertvoller Schatz‘.
  8. ‚Flügel der Poesie‘.
  9. ‚Ein zu rezitierendes Lied‘.
  10. Lungtui ist ein Kompositum aus zwei Wörtern – ‚lung‘ (Herz) und ‚tui‘ (Wasser/Tränen). Das Wort bezeichnet Tränen eines schmelzenden Herzens, ausgelöst durch starke Leidenschaft oder ein Gefühl.
  11. Leihkapui bezieht sich auf eine offene Plattform in traditionellen Mizo-Häusern, wo sich Einzelne oder junge Männer als Gruppen in einer Mondnacht treffen, nostalgische Gesänge singen oder sich nach einem Geliebten sehnen. Zaiva heißt Liedvogel, aber in diesem Zusammenhang bedeutet das sentimentaler Gesang einer Gruppe oder eines Individuums auf der Plattform.

Die zitierten Gedichte finden sich in folgenden Werken:

  • In Dancing Earth: An Anthology of Poetry from North-East India, Hg. v. Robin S. Ngangom, Kynpham Singh Nongkynrih. Penguin, 2009.
  • Indigenous Writers of India: North-East India. Hg. v. Ramaṇikā Guptā. Ramnika Foundation, 2006.

Referenzen (Mizo):

  • Die Zeitschrift Thu leh Hla wurde von der Mizo Academy of Letters (MAL) und Mizo Studies vom Mizo-Institut an der Mizoram Universität veröffentlicht.
  • Online-Ressourcen: ‚Zituahrem‘ und ‚Mizo Poetry Group‘ auf Facebook.

Margaret Ch. Zama ist Professorin für Englische Literatur an der Mizoram University, Aizawl. Neben ihren akademischen Arbeiten hat sie Mizo-Literatur und Geschichten übersetzt, die in Anthologien bei renommierten Verlagen wie Katha, Oxford University Press und der Sahitya Akademi veröffentlicht wurden. Ihre Forschungsschwerpunkt sind Literatur und kritische Theorie, weitere Interessengebiete sind Volkskunde sowie Kultur- und Literaturwissenschaft mit geographischem Schwerpunkt Nordost-Indien.
Margaret Ch. Zama
Übersetzung: Claudia Richter