Essays

FREMDARBEIT : SHAKUNTALA

1. Das Shakuntala-Erlebnis

Das „Verhältnis“ von „Musik und Poesie“ in „Deutschland“, „den Indern erklärt“, zweimal 5000 Zeichen, „früher und heute“. Bei Gott, liebes Goethe-Institut: was für eine Aufgabe, zwischen diesen zehn Anführungszeichen! Wo ist hier das Eigene, wo dort das Fremde, wie die Relation dazwischen? Wo hinein schreibt sich ein solcher Definitionsversuch? In welchen Ort, welche Zeit? Und was unterscheidet die sogenannte „Musik“ von der sogenannten „Poesie“? In welches Verhältnis setzt sie das verbindende „Und“?
Vielleicht zeigt sich eine mögliche Antwort schon in meiner Art, diese Fragen zu stellen, 1 typisch deutsch-dialektisch, zweigepolt. Fangen wir also, dialektisch-deutsch, zweigepolt, beim Andern im Eigenen an, beim Fremden in uns. „Fort nach den Fluren des Ganges...“, tönts mir in den Gedanken: https://www.youtube-nocookie.com/watch?v=TMtsU4EJyRI

Diesem Lied aus Felix Mendelssohn Bartholdys Sechs Gesängen, op. 34, liegt ein Text von Heinrich Heine zugrunde, aus dem „Buch der Lieder“ (1822). Es versetzt den Hörer in ein Indien, das es so nur im deutschen romantischen Lied gibt: ein Garten voller Lotosblumen, Veilchen, Rosen, Gazellen und Palmen.



Auf Flügeln des Gesanges

Ich stelle mir nun vor, wie es kichert, in indischen Ohren. So idyllisch wie in diesem Lied geht und ging es am Ganges ganz sicher nicht zu. 1860 schon hat sich der niederländische Schriftsteller Multatuli über diesen Nicht-Ort und das „Machwerk von Heine“ in seinem Roman „Max Havelaar“ amüsiert: „Erstens haben Sie den Ganges nie gesehen und wissen also gar nicht, ob da gut leben ist. Soll ich Ihnen sagen, wie die Sachen stehen? Es sind alles Lügen, die Sie darum erzählen, weil Sie sich mit dem Geverse zum Sklaven von Versmaß und Reim machen. Hätte die erste Zeile geendet auf Lug oder Trug, so hätten Sie Marie gefragt, ob sie mitginge nach Broek und so weiter.“

Der Ganges ist hier eben zunächst ein deutscher Reimfluss: Ein Reimwort auf „Gesanges“. Und da haben wir sie ja, die Musik der Sprache selbst!

Ganges, Gesanges, Tata! Und schon ist das fabelhafte, erträumte Indien ein Ort, wo auch Musik und Poesie einander nicht länger Fremde zu sein scheinen. 2 Die Melodie trägt den Text – auf ihren Flügeln, die aus nichts als gebrochenen Arpeggien im Klaviersatz bestehen - erst wirklich zum erträumten Ganges hin. Indien wird, mit Mendelssohns Vertonung, zum Ort eines Phantasmas: einer erträumten, nur im Traum gegebenen Einheit von Musik und Poesie. Zu einem Ort, wohin das Gedicht erst durch den Gesang geraten konnte. Dieser Ort, den es nicht gibt, nennen wir ihn eine musikalische Heterotopie, ein romantisches Indien-Phantasma, von zwei deutschen Künstlern jüdischer Herkunft erfunden.

Multatulis Kritik kommt dem Gedicht allerdings trotz der Ganges-Gesanges-Reimerei nicht bei. Denn Heine selbst ist schon Meister eines versteckten ironischen Tons. 3 Und auch Mendelssohns Vertonung betont gerade das Unerreichbare, die Abwesenheit, die Konstruktion aus Requisiten, Budenzauber - und nicht etwa seine Präsenz. 4 Denn dieses Lied ist selber bereits eine Antwort auf das „Shakuntala-Erlebnis der Deutschen“. 5

1791 führt Georg Forsters Übersetzung des Abhijňānaśakuntalam von Kalidasa zu einer Begeisterung für Indien in der deutschen Lyrik. Indische Götternamen, Mythen und Landschaftselemente werden zu einer weit verbreiteten exotischen Mode. Man lernt Sanskrit, begründet einen Lehrstuhl für Indologie, 1816 prägt der Philologe Franz Bopp, dessen Vorlesungen Heine besucht hat, den Begriff des Indogermanischen und die Vorstellung eines indischen Ursprungs der deutschen Sprache. Goethe, Herder, die Brüder Schlegel und Novalis widmen der Sakuntala Texte. Die indische Jungfrau wird zur Männerphantasie, zur Allegorie einer unberührten, paradiesischen deutsch-indischen Ursprache, deren unschuldiges Wesen auch die ungetrennte Einheit von Musik und Poesie verbürgen soll. Brentano schreibt an eine „Jungfrau“, der er eine Ausgabe der „Sakuntala“ schenkt: „Als im verlorenen Paradiese / Du aus den Schöpfers Händen gingst. / Auch du so klar und rein wie diese / Sakontala den Geist empfingst.“ Auch die unvollendetete Shakuntala-Oper von Franz Schubert (1820) zeugt davon, trotz ihrer musikalischen Rafinessen und Schönheiten:



Gegen diese metaphysischen Überhöhungen einer deutschen Jungfrau als indische Shakuntala, diese Vereinnahmung des Fremden durch das Eigene wendet sich Heines Lied. Es macht das Indien-Phantasma der Deutschen sichtbar, indem es seine Metaphorik beim Wort nimmt, seine Konstruktion freilegt und die indisch-deutsche Fremdheit auf die Fremdheit von Musik und Poesie überträgt. Das lyrische Ich tritt dabei als „verführerischer Hochstapler“ auf, „der den Flug in eine herrliche Welt verspricht, wo er sich gut auskennt.“ 6 Ist es nicht die deutsche Sprache selbst, die Heine hier als Herzliebchen anspricht, das erst nach Indien fortgetragen werden muss, um es zu lieben? Nein, der Dichter glaubt nicht an eine solche Ursprache, die erst zu ihren indogermanischen Ursprüngen gehen müsste, um geliebt werden zu können. 7 Liebe kann man auch sofort, aus dem Stegreif machen. Kein Zweifel, dass es sich auch bei diesem Gedicht um eine ordentliche Hochstapelei handelt. Um einen Traum, den nur glaubt, wer glauben will. Und wer als Hörer selig werden will, der glaubt es besser. Denn die Beziehung zwischen Text und Musik „lässt sich, auch nachdem sie verwirklicht ist, nicht so auflösen, dass sie aufhören würde, wunderlich oder wunderbar zu sein, je nachdem wie man sich ihr zu nähern vorzieht.“ 8

2. Fremdarbeit

„Ich bin friedlos, durstig nach fernen Dingen“ – So beginnt Alexander von Zemlinskys Lyrische Symphonie von 1922, ein Liedzyklus für Sopran, Bariton und Orchester nach Gedichten von Rabindranath Tagore:



Die inbrünstige Musik malt die Sehnsucht nach einer unwiederbringlich verloren scheinenden Ferne – auch der spätromantischen Harmonik– noch ein letztes Mal in der vollen symphonischen Form aus.

Als Tagore 1913 den Nobelpreis erhielt, da war es plötzlich wieder da: das deutsche Indien-Phantasma der Romantiker. Komponisten im Umfeld der Zweiten Wiener Schule widmeten sich indischen Legenden, man studierte die Upanishaden und die Baghavad Gita, vereinte Yoga und Ausdruckstanz, Marie Luise Gothein übersetzte Tagores Gedichte und beschrieb in ihrer Geschichte der Gartenkunst die Schönheit indischer Gärten. Woher diese neuerliche Sehnsucht?

Die Antwort darauf war ein „Totentanz der Prinzipien“. Im Nachlass des Wiener Komponisten Arnold Schönberg findet sich der unvollendete Plan zu einem gleichnamigen symphonischen Stück aus dem Jahr 1914, das auch Texte von Tagore und indisches Klangmaterial einbeziehen sollte. Zu den Prinzipien, die sich nach Schönberg ein zwanzigstes Jahrhundert lang zu Tode tanzten, gehörte die romantische Vorstellung des geschichtlich progressiv voranschreitenden musikalischen Denkens. Der teleologischen Zeit des Juden- und Christentums wird die kreisförmige des indischen Denkens gegenüber gestellt.

Diese Idee hatte enorme Folgen in der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts: Stockhausens Mantras, Stefan Wolpes Tagore-Vertonungen, Morton Feldmans Meditationen und die von der indischen Philosophie geprägten Arbeiten John Cages kreisen alle um eine Aufhebung der linearen Zeitlichkeit.

Was aber bedeutet das für das Verhältnis von „Musik“ und „Poesie“? Hatten die Romantiker angenommen, beide seien in grauer Vorzeit einmal eine Einheit gewesen und diese alte Einheit sehnsuchtsvoll als Utopie besungen, so begriffen die deutschen Komponisten in der Schönberg-Nachfolge die Musik selber als Sprache, die Sprache selber als Musik.

Damit eröffneten sich nun Probleme, die einem Dichter wie Tagore vermutlich sehr fremd gewesen wären. Wie viele indische Dichter schrieb, vertonte und sang er seine Texte selbst in der ungebrochenen, zyklischen Fortsetzung einer Jahrhunderte alten Tradition. Und tun das nicht indische Dichterinnen und Dichter bis heute? In Deutschland hingegen gehört historische Skepsis und eine daraus folgende respektvolle Trennung von Dichtung und Musik zur festen kulturellen Tradition. Daran ändern auch Poetry Slam, Hiphop, Rap, Singersongwriting und Performance-Art-Adaptionen oder gelegentliche Kooperationen nichts. Man heuert bei Konzepten an, die in anderen Ländern eine lange Tradition haben und versucht, sich mit ihnen von den Abgründen der eigenen Geschichte zu befreien.

Natürlich gibt es aber Dichter und Komponisten, die gemeinsam am dialektisch-romantischen Phantasma des Gesanges, der den Text zum Ganges trägt, überzeugend weiterarbeiten. Hier zwei gute Beispiele:

Händl Klaus und Georg Friedrich Haas (Bluthaus, 2010,)




Michael Wertmüller und Dea Loher („Weine nicht, singe, 2015, )

Solche Reanimierungen scheinen immer noch aufs Ganze einer romantischen Einheitsphantasie aus Musik und Text zu zielen – sie sind ferne, vielfach an Diskursen gebrochene Echos auf das romantische Lied, auf die Opern Wagners und die Gemeinschaftsarbeiten von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss. Daneben gibt es den skeptischeren Versuch, weiter an einem kritischen Geschichts- und Materialbegriff von Musik und Text zu arbeiten, allerdings unter den neuen Bedingungen des Algorithmus und seiner Ökonomie. In dieser Traditionslinie sehe ich die Dichter Mara Genschel, Hannes Bajohr und die Komponisten Martin Schüttler und Johannes Kreidler. Letzterer hat in seinem Stück „Fremdarbeit“ von 2009 die musikalische Arbeit gleich ganz nach Indien ausgelagert und nur noch „das Gedicht“ geliefert, nämlich ein performatives Konzeptgedicht:

„Fremdarbeit nennt der Komponist Neuer Musik Johannes Kreidler (29) die Kunstaktion, für die er einen Komponisten aus China und einen Audioprogrammierer aus Indien angeheuert hat, um typische Exemplare seiner eigenen Musik billig produzieren zu lassen.“



Viele seiner Arbeiten basieren auf solchen Konzeptgedichten. Rein phänomenologisch, als musikalisches Ereignis, ohne die voranstehende Konzept-Poesie, wären die Stücke sinnlos. Ja, man kann sich fragen, inwiefern ihre Ausführung überhaupt notwendig ist. Als sprachliches Geschehen realisiert das Konzept ja schon, was es sagt. Zur politischen Aktion wird aber erst die ausgeführte Komposition: indem sie industrielle Verfahren des Outsourcings in Billiglohnländer im ästhetischen Raum real reproduziert und so auf eine politische Dimension der ästhetischen Produktionsmechanismen selber aufmerksam macht. Kreidler zahlt die indischen und chinesischen „Fremdarbeiter“ für ihre Arbeit, die er dann als seine verkauft.

Mit einer solchen Aktion parodiert der Komponist zugleich ein neues deutsches Klischee von Indien, das seit einigen Jahren an die Stelle des indogermanischen Sprachursprungsphantasmas getreten ist. Das Land der Shakuntala ist für die Deutschen zum Land der Informatiker, Audioprogrammierer und Plagiatoren geworden. Heines Reim des Gesanges auf den Ganges wurde in einem abscheulichen deutschen Wahlkampfspruch aus dem Jahr 2000 durch den kruden Reim „Kinder statt Inder“ abgelöst. Der CDU-Politiker Jürgen Rüttgers wollte damit die Deutschen auffordern, sich selber zu reproduzieren statt sich von indischen Informatikern reproduzieren zu lassen. Derart glaubte er den Mangel an deutschen Computerspezialisten beseitigen zu können. Seiner Aufforderung sind die Deutschen bisher zum Glück nicht gefolgt. Aber leider sind – war’s der Reim schuld? - nur wenige Inder nach Deutschland gekommen. Und auch eine gute Ausgabe von Kalidasas Shakuntala ist derzeit nurmehr antiquarisch zu haben. Es wird Zeit, sich wieder auf die deutsch-indischen Flügel des Gesanges zu begeben. Vielleicht mit dem Projekt „Poets translating Poets“?

Verweise

  1. Fragen, die man sich so wohl nur stellt, wenn man von Väterchen Hegel einen dialektischen Schlag auf den Kopf bekommen hat und an eine sich fortschreibende, ihrem Wesen nach progressive Geschichte der Kunst glaubt. Und diesen Hau haben - seit dem Jahr 1800 etwa - die meisten Dichter und Denker hierzulande. Wobei sie gegenwärtig vielleicht gerade, durch die Allpräsenz und gottähnliche Überzeitlichkeit des Internets stark verunsichert, damit aufzuhören beginnen ...
  2. Der Dichter Friedrich Schiller prägte in seinem Aufsatz über naive und sentimentalische Dichtung nachhaltig die Vorstellung, die ursprüngliche, in der griechischen Antike verbürgte Einheit von Dichtung und Musik sei für das Subjekt der Moderne verloren.
  3. Gemeint ist hier die sogenannte „romantische Ironie“.
  4. Wenn man die Sache mit der Präsenz missversteht, entsteht ein solch groteskes Kitsch-Missverständnis
  5. Walter Leifer: Das Shakuntala-Erlebnis der Deutschen. In: Walter Leifer, Indien und die Deutschen, 500 Jahre Begegnung und Partnerschaft, Tübingen, 1969, S.97-114
  6. Ignace Feuerlicht: Heines „Auf Flügeln des Gesanges“, in: Joseph A. Kruse: Heine Jahrbuch 1982, 21. Jahrgang, Hamburg 1982, S. 33
  7. Ein in Deutschland populäres spätes Echo davon ist Vico Torrianis amüsanter Schlager: : „Kalkutta liegt am Ganges“
  8. Hans-Jost-Frey, Vier Veränderungen über den Rhythmus. Basel 2000, S.2003

Christian Filips wurde 1981 in Osthofen bei Worms geboren. Heute lebt er in Berlin. 2001 erhielt er den Rimbaud-Preis des Österreichischen Rundfunks. Seit 2010 gibt er die „roughbooks“ mit Urs Engeler heraus. 2012 erhielt er den Heimrad-Bäcker Preis für experimentelle Dichtung. Zurzeit arbeitet er für das Theater, als Regisseur (unter anderem für die Berliner Volksbühne), Performer und Sänger (von Liedern, geschrieben für ihn von der Dichterin Monika Rinck). Zusätzlich übersetzt Filips, hauptsächlich aus dem Englischen, Niederländischen und Italienischen.
Christian Filips 2016