Essays

Einen Verlust betrauern – Gegenwartsliteratur aus dem östlichen Himalaya

Pankaj Thapa; Copyright Foto: Yawan Rai

Der Konflikt zwischen Stadt und Land, zwischen Tradition und Moderne sowie der Verlust einer angestammten Lebensweise führten zu einer Krise individueller wie politischer Identität in der Dichtung aus Sikkim, Darjeeling, Nepal und dem Umland.

Schöpferische Kraft hat im Himalaya traditionellerweise immer ihren Ausdruck in Form von Liedern und Tänzen gefunden. Thematisch reichte der Bogen von Liebesgeschichten und religiösen Erzählungen bis hin zu Schilderungen von Natur und Gesellschaft. In jüngerer Zeit werden auch Fragen der Identität, Träumereien und Konflikte behandelt oder auch Gefühle von Entfremdung und Furcht in dieser weit entlegenen Ecke. Ursprünglich spiegelte sich darin der Konflikt zwischen ländlichen Traditionen und dem Großstadtleben wider; die Verlockungen der Stadt und ihre Wirkung auf die ländliche Unschuld. Remika Thapa gibt es so wieder:

Das Dorf kennt das Schwarzgeld nicht,
auch nicht den Schwarzmarkt
Unerwartet
trifft Hunger das Dorf
Und während der Hungersnot
muss das Dorf die Aussaat bewahren.
(Gauma Kavita, Eigendruck)

Die metaphorische Abwertung von traditionellen Werten ist die Folge eines euphemistisch zu nennenden ‘Fortschritts’. Der Dorfbewohner ist nicht länger das Abziehbild des naiven Provinzlers. Er ist vielmehr ein auf dem Handy herumtippendes, politisch aufgeklärtes Individuum mit urbanen Sehnsüchten, dessen bäuerliche Wahlstimme durchaus etwas bedeutet. Tenzing Gyatso, ein Dichter aus Gangtok, zeichnet folgendes Bild während der Kommunalwahlen:

Ja! Es ist die Zeit der Wahlen! Zindabad! Hurra!
Also, Dorfbewohner, versammeln wir uns um unseren spendablen MLA 
(und vergessen nicht seinen im Wahlkampf ebenbürtigen Herausforderer) 
… schwingen wir das Tanzbein, meine lieben Bauernlümmel, 
wir müssen nicht länger saag 1, iskoos 2 und Kürbisse essen.
Lasst uns in die Jeeps steigen, die aus allen Nähten platzen,
freie Fahrt, Fleisch und Getränke, mehr als wir uns wünschen! 

(Wahlbegeisterung)

Diese Suche nach Identität wurde in den Achtzigern mit der Forderung nach einem eigenen Staat zur politischen Sache. Diese Forderung allerdings führte auch zu gewalttätigen Konflikten, die die Dichter mutig zu dokumentieren versuchten. Anmole Prasad aus Kalimpong schreibt über seinen Freund Harka Bahadur (einen ehemaligen Lehrer und heutigen Abgeordneten):

Harkabahadur die Katze  
hat neun Leben
aber nur eine Frau
… balanciert wie ein hagerer Akrobat
auf dem gefährlichen Hochseil des Arbeitstages
Er geht zum Unterrichten zur Schule
in den nächsten Ort
ohne je zu wissen, ob er es
nach Hause zurückschaffen wird oder nicht.

(Harkabahadur die Katze, aus: FLATfile collectif, Anmole Prasad, Kalimpong.)

Prasad ist der Gründer des FLATfile collectif, einer kleinen Zeitschrift, die feine, englischsprachige Literatur publizierte. Die Zeitschrift, die es heute nicht mehr gibt, druckte literarische Texte von Praveen Moktan, Dorjee T. Lepcha und Pema Wangchuk, allesamt bekannt für ihre ethnischen Bezüge vor lokaler Kulisse.

Rajendra Bhandari, der wahrscheinlich bekannteste unter ihnen, wurde in Darjeeling geboren, ging in Kalimpong zur Schule und ist gegenwärtig Professor für Nepalesisch in Gangtok, was ihn zu einem exemplarischen Dichter der Region macht. Der mehrfache Preisträger pflegt einen sehr reduzierten Stil, verarbeitet Alltagsthemen und schreibt aus persönlicher Warte. Bhandaris meist sehr zurückgenommener Esprit bereichert seine Dichtung überdies. Tatsächlich scheinen Esprit und satirische Züge die Kennzeichen vieler dichterischer Werke aus diesen Regionen zu sein.

… ich sehe meinem Vater immer ähnlicher
sogar meine Schläfen werden grau
ganz so
wie die meines Vaters.
Mein Vater ließ seine grau werdenden Haare grau,
ich dagegen greife zur schwarzen Politik.                                 

(Vater und mein Geburtstag, in: Shabda Haruko Punarvas, Bhim Dhungel)

Guru T Ladakhi repräsentierte Sikkim beim Jaipur Literaturfestival wie früher schon beim Thimphu Literaturfestival. Seine Dichtung nähert Tradition und Moderne auf einfühlsame Weise einander an. In seinen Versen verwebt er Bilder des Häuslichen und der Familie. Sein ergreifendstes Werk schrieb er nach dem Verlust seines Vaters:

… zwischen dem Jammern, dem Regen
und einem Hin und Her der Ärzte;
ein letzter Blick, –  
und er nimmt Abschied durch einen Gang der Nacht,
löst sich in Immaterielles auf.                           

(Tod eines Vaters)

Im Gegensatz dazu rufen die Gedichte von Tenzing Gyatso nostalgische Stimmungen hervor und sprechen angesichts der Gefühllosigkeit der modernen Gesellschaft von Verärgerung, der vielleicht äußersten Regung, die Gyatso zu zeigen weiß. Der Ex-Rocker ‘Gyatz’ ist ein ehemaliger Gitarrist, dessen Band früher regelmäßig bei Palast-Partys auftrat (die Gyalmo 3 Hope Cooke erwähnt ihn in ihrer Autobiographie Time Change). In seinen Gedichten geht es in geistreichen Reimen um Themen der Gegenwart wie um Reflexionen über das Damals.

Die alte Mutter Natur machte Gangtok saftig, grün und hochgelegen,
unsere erhabenen Kämme, Hügel und Spitzen reichen bis in den Himmel
Also folgten die Stadtbewohner einfach der Vorgabe von Mutter Natur 
und bauten hohe Gebäude, die ihnen die Sicht nahmen …
… Dem Anführer der Technokraten wurde die Frage gestellt,
“Sir, welche neuen Projekte haben Sie auf dem Plan?”
So sprach er, “Es ist unser Motto, Gangtok in jeder Weise hoch zu machen,
ein Parkhaus, das in den Himmel reicht, ist die Tageslosung,
und dazu ein noch höherer und überflüssiger Fernsehturm.”     

(Gangtok ist höher als hoch)

Shanti Chettri, Sudha Rai, Meena Subba und Binashree Kharel, die alle auf Nepalesisch schreiben, machen Geschlechterdiskriminierung, Emanzipation und unerwiderte Gefühle zu ihren Themen. Manprasad Subba aus Darjeeling schreibt über geistige Entfremdung, Udai Thulung aus Mangpoo über die Krise der Gorkha-Identität, während Vichandra Pradhan aus Mirik über den Verlust von Liebe und Menschlichkeit dichtet. Der verstorbene Jeewan Theeing aus Gangtok schrieb über die Identitätskrise der Sikkim nach der Vereinigung von 1975. Zu den Autoren der jüngeren Generation gehören Prajwal Parajuly, Chetan Raj Shrestha, Yishey D, Pravin Khaling und Pravin Jumeli.

Dort auf dem Müllfeld
sehe ich
die verbrannten, blonden Blüten der zerfledderten Ringelblumen,
noch heile auf einem Wollfaden
Stränge des Glaubens
jetzt fallengelassen in den Inhalt des Abfalleimers
Ich kann dir sagen,
den süßen Duft im Sinn,
es ist noch zu früh zum Sterben                           
(Yishey D, Dort auf dem Müllfeld)

Prajwal Parajuly (The Gurkha’s Daughter/ The Land Where I Flee) und Chetan Raj Shrestha (The King’s Harvest /The Light of his Clan) sind zwei von der Kritik gefeierte Romanschriftsteller. Parajulys The Gurkha’s Daughter ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, die im östlichen Himalaya spielen, während The Land Where I Flee gesellschaftliche und familiäre Verhältnisse behandelt. Chetans The King’s Harvest umfasst eigentlich zwei Novellen, die in Sikkim spielen, sich aber wie ein Thriller lesen. The Light of His Clan schildert die Intrigen und Machenschaften einer Politikerfamilie in Gangtok.

Veranstaltungen wie Converse und unlängst Chiya Kavita (wörtlich übersetzt: ‘Tee-Dichtung’ und das Ergebnis einer Initiative des Dichters Pravin Khaling) ermutigen Schriftsteller dazu, ihre Arbeiten in der Öffentlichkeit zu präsentieren und damit mehr Bekanntheit und Anerkennung zu erreichen.

Verweise

  1. Spinat Prajwal Parajuly: The Gurkha’s Daughter, Quercus, 2012; The Land Where I Flee, Quercus 2013
  2. Kürbisart Chetan Raj Shrestha: The King’s Harvest, Aleph Book Company, 2013; The Light of his Clan, Speaking Tiger, 2015.
  3. Königin Die Gedichte von Guru T Ladakhi und Tenzing Gyatso sind bislang noch unveröffentlicht.
Pankaj Thapa
ist Assistenz-Professor und Dekan der Englischen Fakultät am Sikkim Govt. College in Tado

Übersetzung: Nils Plath